Das Liebes-Poetische Manuskript N° 3

Kuß-Gedichte

Gustav Klimt Der Kuss



Johann Wolfgang von Goethe
(1749-1832)

Vollmondnacht

Herrin, sag, was heißt das Flüstern?
Was bewegt dir leis die Lippen?
Lispelst immer vor dich hin,
Lieblicher als Weines Nippen!
Denkst du, deinen Mundgeschwistern
Noch ein Pärchen herzuziehn?
»Ich will küssen! Küssen! sagt ich.«

Schau! Im zweifelhaften Dunkel
Glühen blühend alle Zweige,
Nieder spielet Stern auf Stern,
Und smaragden durchs Gesträuche
Tausendfältiger Karfunkel:
Doch dein Geist ist allem fern.
»Ich will küssen! Küssen! sagt ich.«

Dein Geliebter, fern, erprobet
Gleicherweis im Sauersüßen,
Fühlt ein unglückselges Glück.
Euch im Vollmond zu begrüßen,
Habt ihr heilig angelobet,
Dieses ist der Augenblick.
»Ich will küssen! Küssen! sag ich.«


 

Gedicht aus: Johann Wolfgang von Goethe
Goethes Gedichte in zeitlicher Folge. Insel Verlag
Herausgegeben von Heinz Nicolai. 7.Auflage 1990

 

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