Das Liebes-Poetische Manuskript N° 3

Kuß-Gedichte

Gustav Klimt Der Kuss



Rainer Maria Rilke
(1875-1926)


Liebe auch läßt sich den Wellen vergleichen,
Sehnsucht wälzt ihre Wogen zum Ziele,
flüchtendes Nahen, nahendes Weichen,
heiligster Ernst und doch schönstes der Spiele.

Dieses Erkämpfen mit Raunen und Rosen
schon mit der Venus den Wellen entstiegs,
süß vom verstohlenen Augenkosen
bis zu dem Kusse, dem Siegel des Siegs.

Ich will dirs erzählen:
Der Kuß ist ein Lied,
ein wortloses Lied;
ein Kuß - der geschieht!
Es löst das Solo zweier Seelen
in vollen Mollakkorden sich:
Küsse mich ........
Küsse mich - wie das süß -
Küsse mich, Kind, auf den Mund ...
Ja so ein Kuß verrät das und dies ...
Küsse die Lippen mir wund ...

Küsse mich lange, minutenlang,
küsse die Wangen mir rot.
Jetzt bin ich doch schon vor Liebe krank -
küß mich zu Tod ...

Liebe - leuchtende Liebe spannte
weit ihren Flug an des Weltalls Rand, -
Jeder durchwandert sein eigener Dante
Himmel und Hölle an ihrer Hand.

Jeder der weiß wie sie himmlisch oft nahte,
hell in den Augen ein süßes Gebot,
denkt auch das schreckliche >Lasciate<,
das sie am Tore der Hölle gedroht. -

Nicht eine Hölle voll Schwefelgeschwele
harrt meines Todes mit Schrecken und Pein -
Eine Hölle wärs meiner fiebernden Seele,
jemals von dir vergessen zu sein ...


 

Gedicht aus: Rainer Maria Rilke Sämtliche Werke.
Insel Verlag Frankfurt a. Main 1963

 

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