Das Liebes-Poetische Manuskript N° 47


Vom Freund und dem Geliebten

von Ramon Llull (1232-1316)

(Teil 1)
 

(c) Psychodoc Pixelio.de
(c) Psychodoc Pixelio.de

 

Die Leute fragten den Freund: Wo kommst du her?
Er antwortete: Vom Geliebten!
Wo gehst du hin?
Zum Geliebten!
Wann kommst du wieder?
Ich denke bey dem Geliebten zu bleiben.
Wie lange denkst du bey ihm zu bleiben?
Als lange die Gedanken mir dauern werden!

   

 

 

 

 

 

(c) Dieter Wendelken Pixelio.de
(c) Dieter Wendelken Pixelio.de

 

Der Freund litt in Geduld.
Der Geliebte besuchte ihn und sprach:
Aber sage mir, mein Freund,
würde die Geduld dir auch ausgehn,
wenn ich das Leiden dir verzwiefachte.
Nimmermehr, sprach jener,
dafern du nur auch das Lieben
mir verzweifachtest.

   

 

 

 

 

 

(c) Jaden Watt Pixelio.de
(c) Jaden Watt Pixelio.de

 

Der Freund erkrankte in Tod.
Der Geliebte kam und fand in
in Ohnmacht liegen.
Er aber erlabte ihn mit seiner Gnade;
er erquickte ihn mit seiner Liebe;
er bettete ihn in Geduld;
er deckte ihn zu mit der Demuth,
und als er genesen war,
leitete er ihn in alle Wahrheit.

   

 

 

 

 

 

(c) Frank Schulte Pixelio.de
(c) Frank Schulte Pixelio.de

 

Es sang einmal ein Vöglein
in dem Garten des Geliebten.
Der Freund hörte dem Vöglein emsig zu.
Endlich sprach er:
Deine Sprache, Vöglein, verstehe ich nicht;
allein es scheint, daß wir einander
im Lieben verstehn;
denn während du gesungen,
ist der Geliebte mir ganz klärlich
vor der Seele gestanden.

   

 

 

 

 

 

(c) Schubalu Pixelio.de
(c) Schubalu Pixelio.de

 

Der Freund und der Geliebte begegneten einander.
Der Freund sah den Geliebten an;
der Geliebte sah den Freund an.
Keiner redete. Endlich sprach der Geliebte:
Du hast wohl gethan, zu schweigen,
denn es bedarf nicht der Rede
zwischen uns beyden; es bedarf nur
der Blicke und der Winke.
Gib nur ein Zeichen mir mit den Augen,
und ich will dir geben,
was dein Herz begehret.

   

 

 

 

 

 

(c) Verena N. Pixelio.de
(c) Verena N. Pixelio.de

 

Sag an, o Vöglein, das nicht satt wird Liebe
zu zwitschern und zu girren,
warum ist Lieben so süß
und so quälend zugleich?
Hab' ich doch dem Geliebten vorlängst
mich zu eigen gegeben;
dennoch wird das Leiden mir nur gemehrt,
nicht aber gemindert.
Der Vogel antwortete:
Wenn du um der Liebe willen
nicht zu leiden hättest,
womit wolltest du den Geliebten
dann wohl lieben?

   

 

 

 

 

 

(c) Zahner Pixelio.de
(c) Zahner Pixelio.de

 

Der Freund ward gefragt,
ob er seinen Geliebten
wohl austauschen möchte
gegen einen andern?
Recht gern, erwiederte der Freund,
dafern ihr mir nur einen schaffen wollt,
welcher edler ist als das höchste Gut,
vollkommner als der Urquell
alles Guten; dazu ein Ausbund
aller Macht, Weisheit, Schönheit,
Liebe und Güte; dazu auch ewig,
unendlich und überall zugegen.

   

 

 

 

 

 

(c) Verena N. Pixelio.de
(c) Verena N. Pixelio.de

 


Der Freund stand frühe auf
und suchte den Geliebten.
Es begegneten ihm Leute auf dem Wege,
welche er fragte: ob sie seinen Geliebten
nicht gesehen hätten? ...
Sie antworteten und sprachen:
Wie lange ist es her,
daß du deinen Geliebten nicht sahest?
Er erwiederte: Mit den Gemüthsaugen
seh' ich ihn fort und fort.
Und wenn ich es recht bedenke,
so sehe ich auch mit den leiblichen
Augen ihn unablässig,
indem alles Sichtbare nur seine Gestalt
mir wiederspiegelt.
 

   

 

 

 

 

 

(c) Verena N. Pixelio.de
(c) Verena N. Pixelio.de

 

Der Freund schaute den Geliebten an
mit den Augen der sehnenden Liebe;
Der Geliebte hingegen schauete
den Freund an mit den Augen
der Leutseligkeit und der Erbarmung.
Ein Vöglein sahe beyde an,
und hub an ein so holdseliges
Schauspiel auf das allerliebste
zu besingen.

   

 

 

 

 

 

(c) Momosu Pixelio.de
(c) Momosu Pixelio.de

 

Es ward dem Freund so einsam zu Muthe
unter den Leuten.
Ich muß hin, sagte er, und mir
Gesellschaft suchen.
Er fand dann auch, was er suchte,
den Geliebten.
Mit dem Geliebten allein zu seyn,
hieß ihm die Gesellschaft.
Unter den Leuten fühlte er sich,
wie in der Wüste.

   

 

 

 

 

 

(c) Hans Fröhler Pixelio.de
(c) Hans Fröhler Pixelio.de

 

Der Freund saß ganz allein
unter dem Schatten eines Baumes.
Die Vorübergehenden fragten ihn,
warum er so allein sitze?
Ich bin nicht eher allein gewesen,
sprach er, als bis ihr kamt.
Denn bis dahin war der Geliebte
bey ihm gewesen.

   

 

 

 

 

 

(c) Huber Pixelio.de
(c) Huber Pixelio.de

 

Es seufzete der Freund und sprach:
Weh mir! was ist es doch um die Liebe.
Der Geliebte antwortete:
die Liebe ist ein Siegelring,
der das Bildniß des Geliebten
in die Seele drückt.
Nimm hin dann das Insiegel deines Vielgeliebten,
und gehe, und verkündige den Menschen
meine Herrlichkeit.
 

   

 

 

 

 

 

(c) Alisha Pixelio.de
(c) Alisha Pixelio.de

 

Es begegnete dem Freund, daß er
um der Liebe willen,
die er zu dem Geliebten trug,
gefangen, gebunden, geschlagen
und bis in Tod verwundet wurde.
Dazu verhöhnten ihn die Peiniger
und sprachen: Laß sehn doch,
wo ist nun dein Geliebter?
Gelassen erwiederte der Freund:
Er ist nicht weit!
Ihr könnt es abnehmen daraus,
daß meine Liebe wächst gerade in dem Maße,
worin meine Qualen wachsen.

   

 

 

 

 

 

(c) Verena N. Pixelio.de
(c) Verena N. Pixelio.de

 

Der Freund ging in der Stadt umher
und sang mit lauter Stimme
von dem Geliebten.
Die Leute fragten ihn,
ob er den Verstand verloren habe?
Er erwiederte: den Willen habe ihm
der Geliebte geraubt,
den Verstand habe er ihm
freywillig geschenkt;
so sey ihm denn nur das Gedächtniß
übrig geblieben. womit er des Geliebten
sich ohn' Aufhören erinnre.

   

 

 

 

 

 

(c) Jaden Watt Pixelio.de
(c) Jaden Watt Pixelio.de

 


Ein Vogel saß auf einem Zweig und sang.
Die Lüftlein weheten, die Blätter säuselten,
die Blüthen dufteten.
Die Lüftlein brachten den Wohlgeruch
der Blüthen zu dem Freunde.
Der Freund sprach zu dem Vogel:
Was bedeutet die Bewegung dieser Blätter,
und was der liebliche Geruch der Blüthen?
Der Vogel sprach: Die Blätter,
die dem Hauch sich neigen, bedeuten Gehorsam.
Der Duft der Blüthen aber,
den der Wind dir bringt, bedeutet
die Geduld in der Trübsal.
 

   

 

 

 

 

 

(c) A. Dreher Pixelio.de
(c) A. Dreher Pixelio.de

 

Sag an, du Lieberasender,
was würdest du anfangen,
wenn dein Geliebter dich nicht liebte?
Er antwortete: Ich würde ihn lieben
fort und fort, auf daß ich nicht stürbe;
denn nicht lieben ist der Tod,
und lieben nur ist Leben.

   

 

 

 

 

 

(c) Klaus-Peter König Pixelio.de
(c) Klaus-Peter König Pixelio.de

 

Sie fragten den Freund, was die Seligkeit wäre?
Seligkeit, sprach er, sind Kreuz und Trübsal,
die man um der Liebe willen erduldet.
Abermals fragte man ihn, was denn
das Elend wäre? Das Elend, sprach er,
ist die Ersättigung der irdischen Begierde;
denn auf kurzen Rausch folgt
endlose Reue.

   

 

 

 

 

 

(c) Christine Braune Pixelio.de
(c) Christine Braune Pixelio.de

 
Der Freund sprach zu dem Geliebten:
Du bist es ganz, und durch das Ganze,
und in dem Ganzen, und mit dem Ganzen;
darum will ich ganz dich haben,
auf daß auch ich es ganz seyn möge.
Der Geliebte antwortete:
Du kannst mich nicht ganz haben,
oder du mußt ganz mein seyn.
Der Freund sagte: Du hast mich ganz,
laß nun auch mich dich ganz haben.
Der Geliebte antwortete:
Was soll denn dein Sohn haben,
und was dein Bruder, und was dein Vater?
Der Freund sprach: Du bist es dermaßen ganz,
daß du einem jeden sattsam
und überschwenglich ganz seyn kannst,
der sich nur ganz dir schenken will.
   

 

 

 

 

 

(c) Hanspeter Graf Pixelio.de
(c) Hanspeter Graf Pixelio.de
 


Der Freund lustwandelte einstens
auf einer anmuthigen Wiese,
und sahe den Knaben zu, welche auf
die Schmetterlinge Jagd machten,
die über den Blumen webeten.
Die Knaben rannten hin und her;
die Blumen wurden sehr zertreten.
Je mehr Mühe sie aber anwandten,
die Schmetterlinge zu haschen,
je höher schwangen diese sich empor
und entzogen sich endlich ganz dem Gesichte.
Da gedachte der Freund,
daß diesen Knaben ähnlich wären
solche Leute, die durch spitzsündiges Grübeln
seinen Vielgeliebten zu erfassen
und zu ergreifen wähnten.
Allein den Einfältigen nur
wird die Thür aufgethan, während sie
dem Spitzsündigen immerdar
verschlossen bleibt.
Noch ist ein Fensterchen in der Thüre,
wodurch der Glaube schauen läßt
in die Heimlichkeiten des Geliebten.

 
   

 

 

 

 

 

(c) Joshiman Pixelio.de
(c) Joshiman Pixelio.de

 

Der Freund beklagte sich bitterlich,
erst über den Geliebten, der seine Liebe
nicht vermehren wolle, dann über die Liebe,
die so viele Schmerzen
und Trübsale ihm verursache.
Den Leuten kam solche Klage
seltsam vor. Der Geliebte
aber suchte den Freund zu bedeuten;
und sagte, daß eben die Trübsale
und Schmerzen, worüber er sich beschwere,
Kennzeichen und Folgen
der sich vermehrenden Liebe wären.

   

 

 

 

 

 

(c) Dirko Pixelio.de
(c) Dirko Pixelio.de

 

Sag' an, du Liebeverrückter,
warum sprichst du nicht?
Warum hängst du den Kopf,
und stehst in Gedanken?
Er sprach: Ich denke an die Schönheit
des Geliebten, und an seine Gaben
und Gnaden, und an die Freuden
und Schmerzen, welche mir die Liebe
bringt und schenket.

   

 

 

 

 

 

(c) Michael A. May Pixelio.de
(c) Michael A. May Pixelio.de

 

Der Freund bestieg eine Bühne
auf dem vollen Markte, und redete
mit lauter Stimme zu allem Volk
und sprach: die Liebe lasse ihnen befehlen,
daß sie von nun an lieben sollten
im Reden und im Schweigen,
im Kaufen und Verkaufen,
im Weinen und Lachen, in der Freude
und in der Betrübniß, im Gewinnen
und Verlieren, und in allem übrigen,
was sie thäten, trieben und begönnen;
also beföhle es die Liebe.

   

 

 

 

 

 

(c) Herr Zichert Pixelio.de
(c) Herr Zichert Pixelio.de

 

Eines Tages, als der Freund seinen Geliebten
suchte und nicht finden konnte,
traf er einen Menschen an, der im Begriff war,
ohne Liebe zu sterben.
Das that dem Freund über die Maßen leid.
O des großen Jammers, sprach er,
daß Menschen sterben mögen sonder Liebe
dieses Todes oder eines andern.
Darnach fragte er den Sterbenden:
Wie kömmts doch, daß du
ohne Liebe stirbest? Er antwortete:
Leider habe ich ohne Liebe gelebet!

   

 

 

 

 

 

(c) Bluestblue Pixelio.de
(c) Bluestblue Pixelio.de

 

Der Freund ward eines Tages krank von Liebe.
Es kam ein Arzt, ihn zu besuchen,
und ward bald gewahr, wo es ihm fehle.
Sofort flößte er einen Trank ihm ein,
wodurch nicht nur die Liebe noch mehr
entzündet, sondern auch die Liebesschmerzen
noch mehr geschärft wurden.
Und von Stund an wurde
der Freund gesund.

   

 

 

 

 

 

(c) Thomas Stallkamp Pixelio.de
(c) Thomas Stallkamp Pixelio.de

 

Der Freund und die Liebe gingen einmal
zusammen spazieren, und während
sie wandelten, redeten sie gar freundlich
und tröstlich mit einander von dem Geliebten.
Ehe sie sich besser versahen,
stand der Geliebte vor ihnen.
Der Freund hub an zu weinen, und während er
ohnmächtig vor Entzücken niedersank,
verschwand die Liebe.
Der Geliebte aber weckte den Freund wieder auf
und theilte ihm mit von seinen Kleinodien.

   

 

 

 

 

 

(c) Freni Pixelio.de
(c) Freni Pixelio.de

 

Bey Gelegenheit eines sehr großen Festes
richtete der Geliebte ein überaus herrliches
Gastmahl zu, lud viele vornehme
und geehrte Leute ein, bewirthete sie
aufs köstlichste und vertheilte
unter ihnen die kostbarsten Geschenke.
Ganz unversehens fand sich auch der Freund ein
in solcher Versammlung.
Wer hat dich gerufen, sprach der Freund,
und wie magst du doch ungeladen
zum meinem Feste kommen?
Der Freund sprach:
Mein Bedürfniß hat mich hergetrieben;
auch hat die Liebe mich heißen kommen,
und deiner Herrlichkeit und Freude
mich erfreuen.

 
   

 

 

 

 

 

(c) Marco Barnebeck Pixelio.de
(c) Marco Barnebeck Pixelio.de

 

Man fragte den Freund: Von wannen bist du?
Er antwortete: Von der Liebe.
Wessen bist du? Der Liebe.
Wer hat dich geboren? Die Liebe.
Wovon lebst du? Von der Liebe.
Was führst du für einen Namen?
Den Namen der Liebe.
Wo kommst du her? Von der Liebe.
Wo gehst du hin? Zu der Liebe.
Wo ist deines Bleibens?
In der Liebe.

   

 

 

 

 

 

(c) Dorothea Knor Pixelio.de
(c) Dorothea Knor Pixelio.de

 

Es verdroß den Freund, daß sein Vielgeliebter
so wenig geachtet würde unter den Menschenkindern;
er klagte solches, vermeinend,
daß seiner Ehre dadurch sonderlicher Abbruch geschähe.
Der Geliebte erwiederte:
es thue ihm freilich leid, daß er so wenig
brünstige Liebhaber habe unter
den Menschen. Da ward dem Freunde
das Herz weich, und seine Thränen
flossen mildiglich.
Der Geliebte aber tröstete ihn,
indem er seine Herrlichkeit ihm zeigte.
 

   

 

 

 

 

 

(c) J. Brederhorn Pixelio.de
(c) J. Brederhorn Pixelio.de

 

Der Glanz von der Brautkammer der Liebe
erleuchtete die Brautkammer des Freundes,
also, daß alle Finsterniß aus ihr
verscheuchet ward, und nur die Wonne
und die Sehnsucht der Liebe darin verweilte.
Der Freund seinerseits trieb alles aus seiner
Kammer heraus, damit der Freund,
wenn er nun käme, desto gemächlicher
darin ruhen könne.

   

 

 

 

 

 

(c) Verena N. Pixelio.de
(c) Verena N. Pixelio.de

 


Der Freund hatte ein Lied gedichtet,
das er zum öftern zu singen pflegte.
O Pein der Liebe, hieß es,
wie bist du so süß!
Und du, o Süßigkeit der Liebe,
wie bist du so bitter!
Aber o der Seligkeit, geliebt zu werden
von dem Vielgeliebten,
der seine Liebhaber liebet mit einer
unendlichen Liebe, ewigen Liebe,
unüberschwenglichen und ganz
und gar vollkommenen Liebe.
 

   

 

 

 

 

 

(c) Oliver Thaler Pixelio.de
(c) Oliver Thaler Pixelio.de

 


Der Freund beschloß ein Lied zu dichten,
worin die Tugenden des Geliebten
und seiner Liebe Süßigkeit auf das
allererlesenste gepriesen wurden.
Als er seine Gedanken nun zusammennahm
zu solchem Zweck und die Eigenschaften
des Geliebten nach einander vor sich
vorübergehn ließ, ward das Bild
desselben dermaßen lebendig in ihm,
er versank sogar in des Bildes Anschauen,
daß sofort die Gedanken ihm entgingen,
geschweige Maß und Reim,
und das Lied kam nimmer zu Stande.
 

   

 

 

 

 

 

(c) Bernd Boscolo Pixelio.de
(c) Bernd Boscolo Pixelio.de

 


Der Freund wanderte durch Berg und Thal.
Er hoffte irgend eine Öffnung zu finden,
mittelst deren er dem Gefängniß
entkommen könne,
worin die Liebe ihn seit so vielen Jahren
gefangen gehalten mit Leib und Seele,
Sinnen, Gedanken, Neigungen und Begierden.
Nachdem er lange herumgewandelt war
und ganz müde geworden, traf er
auf einen Einsiedler, der am Rande eines
gar kühlen und klaren Brunnens lag und schlief.
Solchen weckte er auf und fragte ihn,
ob es nicht etwa seinen Geliebten gesehn,
oder wenigstens von ihm geträumt hätte?
Der Einsiedler, nachdem er sich ermuntert,
erwiederte: er könne auf seine Fragen ihm
keinen Bescheid ertheilen, denn er sey
ein Gefangener der Liebe, dessen Gedanken
Tag und Nacht, wachend und schlafend,
eingeschlossen wären in dem
Gefängniß der Liebe.
Durch solche Rede fühlte der Freund sich
über alle Maßen getröstet.
Er freute sich einen Mitgefangenen gefunden
zu haben in der weiten Wüste.
Beyde aber fingen an, gar mildiglich
zu weinen, daß der Liebhaber
nicht noch mehrere wären,
die den Geliebten mit ihrer Liebe liebten.

 
   

 

 

 

 

 

(c) Karl Strebl Pixelio.de
(c) Karl Strebl Pixelio.de

 

Der Freund und der Geliebte begegneten einander.
Sie grüßten sich, sie küßten sich,
sie umhalseten sich und weinten lange.
Der Geliebte fragte den Freund um sein Befinden;
Der Freund aber vermochte nicht
zu reden in des Geliebten Gegenwart.

   

 

 

 

 

 

(c) Günter Havlena Pixelio.de
(c) Günter Havlena Pixelio.de

 

Der Freund schrieb dem Geliebten diesen Brief:
Es müsse wohlgehen meinem Vielgeliebten,
und es werde ihm kundgethan hierdurch,
daß meine Gedanken bey ihm verweilen,
daß meine Augen um ihn weinen,
und daß ich ganz matt und kraftlos sey
um der großen Liebe willen, die ich zu ihm trage.
Ich fühle nicht, ich sehe nicht,
ich höre nicht, ich rieche nicht,
ich lebe nicht.

   

 

 

 

 

 

(c) Thomas-Max Müller Pixelio.de
(c) Thomas-Max Müller Pixelio.de

 

Der Freund dachte an die Herrlichkeit
des Geliebten und ward sehr fröhlich.
Er gedachte an den Undank
und die Verkehrtheit der Welt,
und glaubte, das Herz werde
ihm zerspringen
vor übergroßem Schmerze.

   

 

 

 

 

 

(c) Rainer Rosenau Pixelio.de
(c) Rainer Rosenau Pixelio.de

 

Gott hat die Nacht geschaffen,
daß der Freund darin wachen
und die Herrlichkeit des Geliebten
ohne einige Störung gedenken könne.
Der Freund aber war der Meinung,
daß sie geschaffen sey, damit die,
welche den Tag über sich müde
geliebt hätten, liegen
und schlafen möchten.

   

 

 

 

 

 

(c) Psychodoc Pixelio.de
(c) Psychodoc Pixelio.de

 


Der Freund schwur dem Geliebten zu,
daß er ihn einzig liebe und um ihn täglich
und stündlich leide und traure,
weshalb er denn verhoffe und gar sehr bitte,
daß der Vielgeliebte auch ihn lieben
und seines großen Jammers sich erbarmen möge.
Der Geliebte dagegen schwur dem Freunde zu,
daß ihm nicht möglich sey,
anders zu gesinnen, als es der Freund begehre,
daß vielmehr seiner Liebe Art
und Eigenschaft sey, zu lieben alle,
welche ihn liebten, und Mitleid zu haben
mit denen, die um seinetwillen Trübsal litten.
da freute sich der Freund und fühlte
durch des Geliebten Art und Eigenschaft
sich gar sehr getröstet.

 
   

 

 

 

 

 

(c) Verena N. Pixelio.de
(c) Verena N. Pixelio.de

 

Der Freund rief mit lauter Stimme und sprach:
Höret, o ihr Liebhaber, höret!
Braucht ihr Feuer, so kommt und zündet
eure Lampen an an dem Brande meines Herzens!
Braucht ihr Wasser, so kommt und schöpfet
aus dem ewig fließenden Brunnquell meiner Augen.
Gebricht es euch an Liebesgedanken,
ich habe deren in Überfluß;
kommt und nehmet,
ich werde darum nicht darben.

   

 

 

 

 

 

(c) Verena N. Pixelio.de
(c) Verena N. Pixelio.de

 

Du Liebegefangner, du Liebeverblendeter,
du Lieberasender, sag' an, wie lange
willst du noch ein Sclave seyn?
wie lange noch weinen und heulen, und vergehn
in deinem Herzeleide, wie ein Schatten?
Der Freund antwortete:
So lange, bis Leib und Seele sich scheiden
und der Geliebte mich heimholt
aus dieser Fremde, um in seine
und meine Heimath mich zu führen.

   

 

 

 

 

 

(c) DPF Pixelio.de
(c) DPF Pixelio.de

 

Sag' an, du Lieberasender, hast du auch Geld?
Der Freund lächelte und sprach:
Und wenn ich auch des Geldes nicht hätte,
so habe ich dafür etwas Anderes und Besseres.
Ich habe Liebe und Liebesgedanken,
Verlangen, Thränen, Leiden und Trübsal,
welche mich köstlicher bedünken,
als alle Schätze des Erdkreises.

   

 

 

 

 

 

(c) Daisyse Pixelio.de
(c) Daisyse Pixelio.de

 

Der Freund beklagte sich bey dem Geliebten
wegen der allzugroßen Qual,
welche dessen Liebe ihm verursache.
Der Geliebte vertheidigte sich nicht;
statt dessen bewirkte er, daß von Stund an
des Freundes Noth und Qual, seine Liebesnoth
und Liebesbeängstigung über alle Maßen
vermehret und vergrößert wurde.

   

 

 

 

 

 

(c) Jürgen Pixelio.de
(c) Jürgen Pixelio.de

 

Der Freund hatte sich ein feines Lied erdacht
über die Art und Eigenheit seiner Liebe;
wie nemlich alles ihm so anders geworden,
seit er die Liebe gefunden; wie, was vormals
ihm bitter gewesen, ihm so süß geworden
durch die Liebe, und was ihm süß gemahnt,
anjetzt lauter Galle ihn bedünke
in Vergleich der Liebe; daß also die Liebe
die wahre Wiedergeburt sey,
und die Liebhabenden die wahrhaft
Wiedergebornen.

(Teil 2)


Alle Texte aus: Die Ströme [Jeanne Marie Bouvieres de La Motte Guyon]
Gotthard Ludwig Theobul Kosegarten [1758-1818] (Übersetzer)
Stralsund Königl. Regierungs-Buchhandlung 1817
(Im Anhang: Des Eremiten Blacherna Büchlein vom Freund und dem Geliebten S. 163-174)


siehe auch: http://de.wikipedia.org/wiki/Ramon_Llull



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