Das Liebes-Poetische Manuskript N° 55

Hundert Küsse zu hundertmalen, hundert Küsse zu tausendmalen,
tausend Küsse zu tausendmalen ...

Die Küsse des Johannes Secundus (1511-1536)
 


Alessandro Allori (1535-1607)
Bianca Cappello



Sechzehnter Kuss

Du, liebreizender als silberner Mondesglanz,
Du, holdblühender als Cypria's goldner Stern,
Hundert Küsse, so viele
Beut mir, als dem begehrlichen
Dichter Lesbia bot, als sie von ihm empfing,
Als dir Götter der Lust, oder als Reize dir
Süß die Lippen umflattern,
Auf den rosigen Wangen blühn,
Als du Leben im Blick, Tod' in dem Blick du trägst,
Als Hoffnungen und als Sorgen und ewige
Klagen schmachtender Liebe
Und mit Wonnen vermählte Wehn:
Beut soviele du mir, als des beflügelten
Gottes zürnende Hand Pfeil' in die Brust mir trieb,
Und soviele der Wilde
Noch im goldenen Köcher birgt,
Weichanschmiegenden Reiz füge zum Schmeichellaut,
Und zum kosenden Wort flüsterndes Liebegirrn,
Hold anlockendes Lächeln
Zu muthwilliger Bisse Spiel,
Wie mit Wechselgegirr zarte Chaonische
Tauben, schnäbelnd vor Lust, spielen im Myrtenhain,
Wenn die traurige Bruma
Vor rückkehrenden Westen fleucht.
Lehne, küsseberauscht, schmachtend dich an mein Haupt,
Spiele lüsterner dein brechendes Augenpaar,
Und dich Trunkene laß mich
In dem haltenden Arm empfahn:
Fest verstrick' ich dich dann in den Umarmungen,
An die glühende Brust schließ ich die Schauernde,
Geb' im Hauche der langen
Küß' erneuetes Leben dir,
Bis der Odem auch mir unter der Küsse Thau
Sanftschwindend entfleucht. Schlummer umschwärmen mich,
Und mich Trunkenen laß' ich
Dich mit haltendem Arm umfahn:
Fest verstrickest du mich dann in Umarmungen,
An der wogenden Brust wärmst du den Schauernden,
Giebst im Thaue der langen
Küß' erneuetes Leben mir.
Laß vereinigt uns so unsere Blütenzeit
Blumen pflücken. Es naht schleichend das Alter schon,
Krankheit führte es mit sich,
Qualen sorgender Angst und Tod.

 

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Übersicht

Gedicht aus: Die Küsse des Johannes Secundus
München Hyperion Verlag 1920
In der Übersetzung von Franz Passow [1786-1833]
(nach der Ausgabe Leipzig 1807)
(S. 45-47)
 


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