Max Herrmann-Neiße
(1886-1941)
Psalm für Leni
Deine Ohren sind Glocken, darin meine Zunge schwingt,
Blühende Lauben, in die meine Lippen schlüpfen,
Darin meine Zähne wie Vögel hüpfen,
Muscheln, in die mein Mund sich singt,
In ihnen nistet alles, was aus meinem Blut sich ringt:
Alle Klänge, die Romeos Strickleiter knüpfen,
Jeder Wind, der unsere Wege weiter winkt - - -
Dann blühn die Knospen deiner Brust
in meinem Mund wie Klee,
Ich werde weit wie eine Welt und schmelze hin
wie Schnee,
Und plötzlich sind wir eines Sommersüdens stiller See - - -
Du gibst mir Erde, Licht und Regen, welcher reift,
Du bist die Hand, die Früchte von den Zweigen streift,
Du bist des Schnitters Krug, des Bettlers Brot,
Des Pilgers Morgentrunk und Abendrot,
Du bist der Turm, von dem man Länder übersieht
Du bist des Heiligen Gebet, der Hure Lied,
Alles, was tröstet und in Himmel hebt,
Das Wort, in welchem Wert und Wesen lebt,
Alles, was geliebt wird und wieder liebt,
Was dem Fisch Flossen und dem Vogel Gefieder gibt,
Kinder, die nicht mehr weinen - Greise, die sicher sind,
Abende, die schön und voller Gekicher sind,
Reisen mit der Geliebten, in Hotelzimmern
wonnige Nächte,
Melodie der Steppen, der Städte, der Bergwerksschächte,
Veranden am Wasser mit Lampions, schmale Raine,
Wo zwei sich küssen, Wangen erhitzt vom Weine,
Genesung in Krankensälen, der erste Gang
in den Garten,
Nelken, früh ans Bett gebracht -
bei einem Stelldichein Warten,
Gedichte, die man nie vergißt und leis' vor sich hinsagt
im Wandeln,
Süße von Pfirsich und Erdbeer,
Duft von Myrrhe und Mandeln,
Feste in Fahnen, Freudenfeuer, Böllergeknall -
Des Menschen Glück, Mutter, Schwester,
Ewigkeit und All!