Max Herrmann-Neiße
(1886-1941)
Dein Kuß
Was wir teilten, Leid und Späße,
Unerfreuliches und Zwist,
wenn ich es nicht mehr besäße,
weil Du mir entglitten bist,
würde dunkel alles Leben,
welk der Wiesen Gelb und Rot,
fahl der Schmetterlinge Schweben,
der Triumph der Berge tot.
Wie das Kätzchen, das verlassen
kläglich Deiner Spur nachging,
müßte ich die Güte hassen,
die mich einst so sanft umfing,
mich in Einsamkeit verhärten,
gram vergangenem Genuß.
Duft und Frucht der Hügelgärten
schwänden, fehlte mir Dein Kuß.
Saßen schweigend wir beisammen
an dem abendlichen Strand,
ringsum flackerten die Flammen
in dem leis entrückten Land,
das der See im Spiegelbilde
liebevoll verzaubert hielt,
neidisch war nach seinem Schilde
schon des Mondes Pfeil gezielt.
In dem Dunst der Promenade
glomm es hinter unsrer Bank,
und im Zirpen der Zikade
kündete sich Untergang.
Stürzen sah ich alle Brücken,
ihr Geleucht ertrank im Fluß.
Alle Dinge, die beglücken,
schwänden, fehlte mir Dein Kuß.
Aber, ist schon Herbst zu ahnen,
schreckt ein fremder Hauch mich schon,
das Geräusch der Eisenbahnen
mahnt mit kaltem Abschiedston,
Rauch steigt von den Ackerstreifen,
wo der welke Rest verbrennt -
laß mich Deine Hand ergreifen,
daß uns nichts im Leben trennt!
Er verlieren ihre Schrecken
Bergsturz und Gewitterdrohn,
Dunkel mag den Wald bedecken,
Blitz um Blitz das Tal durchlohn:
weiß ich Dich in meiner Nähe,
komme, was da kommen muß!
Was auch immer mir geschähe,
würde gut in Deinem Kuß.