Das Liebes-Poetische Manuskript N° 6

Amor persönlich
Gedichte über Amor

Denis-Antoine Chaudet (1763-1810) - Cupido

 


Johann Peter Uz
(1720-1796)

Amor und sein Bruder

Um die stille Mitternacht,
Wenn allein die Liebe wacht;
Wenn die schattenvolle Welt
Nur der hohe Mond erhellt:
Schlief die Nachbarin Elmire;
Wenigstens ihr Alter schlief:
Als vor ihres Hauses Thüre
Cyperns Gottheit pocht', und rief.

Wer ist hier? wer lärmt noch so?
Ach! mein güldner Traum entfloh!
Rief die Magd halbschlafend aus,
Gähnt' und taumelte vors Haus.
Amor fleht' in ihren Armen;
Und, wie alle Welt gesteht,
Muß ein Mädchen sich erbarmen,
Wann ein milder Amor fleht.

Ihm wird willig aufgethan;
Und sein Bruder hängt sich an:
Halb bedeckt ein Epheü-Kranz
Seines güldnen Hornes Glanz.
Seine schlauen Blicke brennen;
Jede Sehne schwillt von Kraft:
Die ihn kennen wollen, nennen
Ihn den Gott der Hahnreyschaft.

Amor thut sogleich bekannt,
Lehnet an die nächste Wand
Seinen Bogen lachend hin,
Hüpft und ruft mit frohem Sinn:
Trotz der fest verschlossnen Thüre,
Bruder! half ich dir herein.
Jung und feurig ist Elmire:
O sie wird nicht grausam seyn!


 

Gedicht aus: Johann Peter Uz, Sämtliche Poetische Werke,
Hrsg. von August Sauer, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 1964
(Unveränderter reprografischer Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1890;
Deutsche Literaturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts Nr 33-38)

 

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