(...) Mein Kind! wann werd
ich denn aufhören können, mich immer aufs Neue wieder über Dich und mich
zu verwundern und zu fragen: wie ist das Alles geschehen?! Aber ich
wollte, die Zeit käme nie, wo ich das nimmer frage! Ich meine,
das wäre schon ein Vorbote des Todes unserer Liebe. Oder muß die Liebe
nicht mit jedem neuen Morgen über sich selber, als über ein Wunder,
erstaunen und freudig zusammenschrecken? Ist sie bei Dir anderer Art? Es
mag sein, und ich glaube es fast, aber es macht mir nicht bange.
"Gerne denk ich mir Dich stets als ein eigenes Kind."
Ich muß abbrechen, sonst mach ich Dir den Kopf toll mit Ergießungen, die
Du nicht liebst. Morgen nachts neun Uhr wird mein Schatten im
Widerschein Eures Lichts an der Kirchenwand neben dem Deinigen
erscheinen; da sprich ein wenig mit ihm! ich wills in der Ferne hören.
Hab ich doch heut schon mit Deinem blaugestreiften Kleid leise
Gespräche geführt, das vor dem mittleren Fenster in der Wohnstube an der
Stange trocknet. Wäre es nicht gar hübsch gewaschen, ich hätte es wohl
geküßt in der phantastischen Hoffnung, daß noch ein par geistige Atome
Deines Wesens in den Fäden steckten. (Lachst Du?) (...)
Plattenhardt, den 2.
September 1829 3 Uhr nachmittags (S. 377)
_____
Es ist nachts elf Uhr; ich war schon zu Bette, konnte aber nicht in
Schlaf kommen, zündete Licht an und rede nun noch ein wenig mit Dir;
morgen früh hätt ich den Bauern ohnehin nicht fortgelassen, ohne Dir für
Dein Gestriges gedankt zu haben. Ja, Dein gestriges Briefchen! Sieh,
mein Kind, ich sage Dir - und das mußt Du buchstäblich für Wahrheit
nehmen, ich habe nie in meinem Leben, daß ich wüßte, ein geschrieben
Wort gelesen, das mein ganzes Wesen so entzückt, so rein über sich
selbst erhoben hätte wie dies! Was soll ich noch weiter sagen? Amen
also, und glaube Du's.
Höchst merkwürdig war mir das wunderbare Zusammentreffen unseres
Nachblickens, wovon Du schreibst, um so mehr, als ich mich nur dies
Einzige Mal umkehrte und demnach in eben dem Augenblick, das Du ans
Fenster tratst. "Wunder hat die Liebe viel", sagt Herr Ludwig Uhland.
Kaum hatt ich Deinen Brief bis auf den letzten verborgenen Honigtropfen
ausgesogen und jede Silbe, jeden leisen Gedankenübergang mikroskopisch
durchdrungen, so hör ich auf dem Gang eine derbe Stimme, die nach mir
fragt. (...)
(Etwas später)
Jetzt gute Nacht, Luise! meine Luise! - Dieser Name läuft, wie
ein sanftes Echo, den Tag über und die Nacht durch mein Innerstes. Es
ist eine heilige Stille um mich. Draußen liegt alles klar, wie am Tag.
Der Mond zeichnet die drei vordern Fenster hell auf den Boden der lieben
Stube, worein diesen Augenblick vielleicht ein lebendiger Traum Dich mit
mir einführt - vielleicht ist jetzt ein heller Sommermorgen unter Deinem
geschlossenen Augenlide - ach, wie einst, wenn ich früh herüber kam und
Dich allein bei der Arbeit schon unterm Fenster sitzend fand, selber
blühend Du wie der Morgen - wir sind einander noch fremde, höfliche
Gestalten - Du grüßest mich halblaut von fern - - Erwach! Erwache, mein
Kind, und gedenke, daß ich Dein geworden bin seit jener kurzen
Zeit! -
Welch eine unbeschreiblich schöne Nacht! - Ich öffne ein Fenster, höre
die Melodie des Brunnens - blicke aufs Gärtchen hinunter - alles so
leicht, so geistig in Schatten und Licht! Wie schwimmend sind alle
Gegenstände.
Könnt ich Dich eine Minute lang haben! Nicht einen Kuß gäben wir uns -
sondern stille, staunend, andachtvoll säh' ich Dich mir an die Seite
gezaubert wie eine leichte Verkörperung meines heiligsten Gedankens, die
ich nicht zu berühren wage, die leisen Tritte wieder entweicht, aber in
mir eine unnennbare Seligkeit zurückläßt, die mich in den Schlaf hinüber
begleitet.
Ist mir aber nicht jetzt schon so zu Mute? Tritt, o Kind, diesen
Augenblick herein! und ich will nicht erschrecken, will nicht fragen:
Bist Du Luftbild oder Leben? Ich wäre auf jedes Wunder gefaßt - - Zwölf
Uhr. Schlaf wohl!
Plattenhardt, den 9.
November 1829 (S. 381-383)
_____
Für Dich allein
Kaum bin ich hier angelangt, bestes Kind, so gibt es schon wieder
Gelegenheit, die Madel nach Grötzingen zu schicken, und ihr ein liebes
Wort an Dich mitzugeben. O Herz! wie seltsam hat es die kurze Zeit, als
ich von Dir bin, in meinem Innern gewechselt! So lang ich unterwegs war
und in der frischen glänzenden Winterluft, wiegten sich meine
Gedanken nur in einer Art von glücklicher Dumpfheit hin und her, kaum
saß ich zu Haus, so fehlte mirs an allen Ecken und Enden, eine
unerklärbare Unruh kam über mich; nicht blos das Heimweh nach Dir, nicht
die Starrheit der alten Einsamkeit, nein, eine ganz neue unbekannte
Trauer zog mir die Brust zusammen, aber Deine Gegenwart, ein Wort von
Dir hätte mir doch allein geholfen.
Ich warf mich matt und abgespannt aufs Bette und fand, wie seit langer
Zeit nicht, wieder eine Zuflucht in dem Troste unverhaltner Tränen. Es
ist das einer von den rätselhaften Augenblicken, von denen es heißt:
sind wir ein Spiel von jedem Druck der Luft?
Du hast Dich deswegen auch nicht drum zu kümmern und ich hätte füglich
nichts davon gesagt, wenn mirs nicht eine Erleichterung, ein Bedürfnis
wäre, Dich eben in dieser Wehmut herbei in meine Arme zu ziehen, gerade
jetzt Dir zu sagen, wie ganz Du mich durchdringest!
Mir ist wohl und weh; - da brennt stille das Licht vor mir und wie es
ruhiger in meinem Innern wird, hab ich einen von den seltenen und
geweihten Momenten, wo der Mensch gleichsam mit angehaltenem Atem auf
den Grund der eigenen Seele niederschaut oder den geheimsten Puls seines
ahnungsvolleren geistigen Lebens fühlt. -
Liebes Kind! ich schließe, denn ich wüßte Dir fürwahr nicht mehr zu
sagen. Heute nehm ich Dich so innig wie noch nie in mein Gebet. Gute
Nacht!
Leb wohl! Dein Eduard
Plattenhardt, den 2.
Dezember 1829 Mittwoch Abend (S. 386-387)
_____
(...)
Neulich, mein teuerstes Herz, als ich nach dem Abschied von Dir alleine
meinen Weg so fort ging und die Nacht wie in immer dichteren Schichten
leise niedersank, ich rund um mich keinen Laut mehr hörte, als meinen
eigenen Fußtritt, und der Mond auf seinem rein blauen Feld nun sich so
ruhig die alte Erde, so ruhig wie vor tausend Jahren auch, beschaute, da
dacht ich: Wie viel Elend und Not siehst Du nun in diesem Augenblick
hier unten, so weit Menschen nur atmen - und doch, wie viel Seligkeit
auch! Ich verdoppelte unwillkürlich meine Schritte, voll von dem Gefühl,
daß auch ich einer von den ganz Glücklichen sei! Ich schauderte
einen Augenblick vor der Größe und vor der Wirklichkeit meines
Glücks; - denn, gibt es nicht solche seltene Momente, wo gleichsam ein
rascher Blitz des innersten Bewußtseins und das, was wir besitzen
und sind, in seiner ganzen Gestalt sehn läßt - in der
überwältigenden Fülle seiner Wirklichkeit, während es dann scheint, als
wäre man bisher nur wie in einem gewöhnlichen Traum befangen gewesen? Da
ist es mir denn, als rührte plötzlich ein Gott meine Schulter mit der
Hand und ich schlüge hell die Augen auf - aber nur, um dann gleichsam
wieder von einem wachen Traum in den andern zu stürzen, vergeblich
ringend, das Wunder zu begreifen, das mich so glücklich macht. O liebe,
liebe Luise, es ist wahrhaftig kein leeres Wort, wenn ich Dir sage, daß
ich in solchen Augenblicken mich zu jener himmlischen Genügsamkeit
erhoben und fähig fühle, welche in dem bekannten Ausdrucke liegt: "- -
Rufe Dein Kind zurück! Ich habe genossen das irdische Glück! ich habe -
usw." -
So viel, meine Teuerste, wollte ich diesen Abend noch schreiben, um auch
nur Eines Tropfens von dem seligen Meer los zu werden, das mir
oft die Brust sprengen will. Gute Nacht! schlaf wohl - diese Worte
riefst Du mir noch zuletzt auf der Höhe des Bergs nach, und seitdem
verlassen sie mit ihrem Klang mein Ohr nicht mehr. Gute Nacht! schlaf
wohl! -
Plattenhardt, den 4.
Dezember 1829 Freitag abends (S. 388-389)
_____
(...) Dein Gestricktes liegt immer vor mir; gestern sah ichs mit dem
Gedanken an: da hat mein Kind doch wenigstens auch bei jeder fünften
Masche an mich gedacht! In jeder fünften Masche hängt also doch ein
Gedanke eingebaut - die muß ich alle einzeln und durch Küsse erlösen,
sonst läßt mir das Zaubernetz keine Ruhe.
Aber daran, liebes Herz, muß ich nun doch gelegentlich eine
Warnung und eine Bitte knüpfen - sie betrifft Deine Augen! - Im Ernst,
es fiel mir recht schwer auf die Seele, daß Du vielleicht viel bei Nacht
gearbeitet hast. Nicht wahr - Das läßt Du künftig! (...)
Plattenhardt, Samstag den
5. Dezember 1829 (S. 389)
_____
Guten Morgen, liebste Seele!
Es liegt für mich etwas Angenehmes darin, die erste Morgenstunde des
Tages Dir zu widmen, eh ich noch ein Wort mit andern gesprochen, und
solange das Innere, noch unbewegt von der Außenwelt, rein und glatt wie
ein Spiegel liegt. Du kennst doch jene stille Frühstimmung des Herzens,
wo man sich bewegt fühlt, man weiß nicht, von was, aufgelegt zu jeder
guten Tat; es fehlte wenig, und man würde in die seligsten Tränen
ausbrechen. Es ist (wie das Sprichwort in anderer Beziehung sagt), als
wäre ein Engel durchs Zimmer gegangen; die Seele fängt gleichsam von
sich selber zu tönen an, wie jene Harfen, auf denen die Luft spielt. O
Liebste! das hast du hundertmal empfunden, gewiß; weißt Du, an jenen
goldigen Sommermorgen, wenn Du, die Erste im Haus, schon bei der
reinlichen Arbeit am Fenster saßest? Eine so milde Sehnsucht zieht mich
jetzt zu Dir, mein ganzes Wesen hat nur eine stete Richtung, und
ich fühle mich jetzt seit vier Tagen wieder zum erstenmal Dir und mir
ganz gegeben; denn seit ich in Nürtingen gewesen, ohne Dich sehen zu
können, war ich wie in zwei Teile gespalten, ich fehlte mir überall. Am
Donnerstag, wie ich hier angekommen war, auf mein einsames Zimmer trat,
Hut und Stock ablegte, fuhrs mit Einmal in mich hinein wie das
Bewußtsein eines unwiederbringlichen Verlusts; wahrlich, mein Herz
wimmerte in mir wie ein Kind und klagte mich bitterlich an, und doch
wußt ich mich ohne Vorwurf; fast hätt ich aber mit ihm geweint. Nun ist
Alles wieder gut; ich denke, wir küssen uns bald anders als blos auf dem
Papier. Dein letzter Brief (der in der Christtagsschachtel lag) glühte
mir in der Hand, und ich weiß nicht, war es seine oder meine Glut.(...)
Owen, den 4. Januar 1830
(S. 399-400)
_____
Für Dich allein
Die Liebe ist gleich unersättlich im Austeilen und Hinnehmen immer neuer
Schwüre, und so wird es uns stets ein glückliches Bedürfnis bleiben, das
alte "Wie lieb ich Dich!", welches Dein letzter Brief, doppelt
unterstrichen, wiederholt, wechselseitig zu hören und hören zu lassen.
Es ist derselbe einfache Akkord, der, so oft Du ihn anschlagen magst,
jedesmal wieder neu und mit nie erhörtem Zauber in mir nachklingt. Diese
süße Wiederholung, worin man sich selber nie ein Genüge tut, gleicht
fast einem lieblichen Spiele, das etwa darin bestünde, daß Du ein
goldenes Gefäß mit köstlichem Wein in ein anderes gössest, damit ich den
immer frischen Perlenschaum schnell vom Rande sauge, um sodann Dir
wieder einzufüllen, daß Du das gleiche tuest, und so fort - ohne unsern
Durst löschen und den Wundertrank zur Neige bringen zu können. Ist das
ein Spiel, so ists ein solches, wie die Engel es treiben, und wir
schämen uns seiner nicht. Glaubst Du, es könnte eine Zeit kommen, wo wir
dessen satt werden? Ich kanns nicht denken; mich schauert, wenn ichs
denke!
Wie lieb ich Dich! So ruf ich Dir heute zu und werde es noch,
wenn jene Tage kommen, welche so manches Andere an mir abstreifen mögen,
was jetzt noch Hand in Hand mit meiner Liebe geht.
Wenn ich manchmal in Gedanken dem Ursprung unserer Liebe nachgehe, wie
man dem Gange und allen sanften Krümmungen eines Flusses folgt, so
verschwimmt das Ganze vor meinem Blick wie in ein einzig unermeßliches
Meer, auf dem ich staunend all mein Sinnen zerfließen lasse. Mir ist,
als hätten wir uns gehört seit Ewigkeiten, und doch -der sonderbare
Gegensatz! - mir ist, als müß ichs heute erst erfahren und begreifen
lernen. Dies Gefühl des höchsten Glückes wird dann so überwältigend und
groß, daß es keinen Ausweg findet als im brünstigen Dank gegen den, der
Alles so wunderbar gefügt. - Ich bewundere mit Tränen die Liebe des
Höchsten und seine Majestät, wenn mir einfällt, - ich, der Einzelne, an
dem sich das Füllhorn überschwenglicher Wonne erschöpft zu haben
scheint, bin doch der kleinste Teil nur in einer ganzen unendlichen
Schöpfung, auf welche sich Ströme der Liebe stürzen. Es flutet eine Welt
voll Seligkeit in mir auf und nieder - sie ist ein Tropfen, der im All
verschwindet, - und doch so mächtig fühl ich mich in ihr, daß ich mir
Nichts gleich mehr glaube von Allem, was außer mir und außer uns Beiden
lebt; ja, wenn der Lobgesang aus tausend glücklichen Kehlen sich in
Einem breiten Strome himmelan schwänge - ich könnte zweifeln, ob er der
Empfindung meines einzelnen Glücks gleich käme, und doch fühlte von den
Tausenden ein jeder vielleicht dasselbe, was ich und was Du.
Sich aber gerade dies recht klar und innig bewußt zu bleiben und
deswegen in Andern sich doppelt zu freuen, das mag ein
charakteristisches Merkmal jener Seligkeit sein, wie sie im Himmel zu
Hause ist, wo alle Selbstsucht wegfällt. Aber auch hier auf Erden läßt
sich eine Ahnung davon haben - in Augenblicken, die gewiß zu unsern
reinsten und herrlichsten gehören. Nur leider, daß man sie nicht
festhalten kann!
Liebe, teures Kind -! ich habe hier mit vielen Worten und ohne recht zu
wissen, wie sie aufs Papier kamen, ungefähr das gesagt, was Du mir viel
besser und einfacher mit wenig Zeilen sagst, aber nimm es hin als den
wahrhaften Ausdruck meines Innersten, den vielleicht jedermann, nur Du
nicht, der Übertreibung beschuldigen würde. Du bist das Einzige Wesen,
das mich hierin ganz zu würdigen versteht; ich bin der Einzige, der das
schöne Geheimnis Deiner Seele, Deines ganzen Denkens, Seins und
Ausdrucks entschleierte, der den leisesten Laut Deines Gemüts auffängt,
daß er zum vollschwellenden Gesange in mir aufgeht. Liebes Herz! Könnt
ich jetzt, an Deinem Halse liegend, alle das zusammenfassen mit Einem
Blick in Dein getreues Auge - -! (...)
(...) Nun scheid ich endlich von Dir. Eine gute Nacht der Kranken oder
der Gesunden. Möge unser guter Genius heute unsere Träume zusammenflechten! Ich glaube, wenn es sich mit Geld erkaufen ließe, daß
ich ganze Nächte im Traum mit Dir zubrächte, ich würde Hab und Gut
verlieren. Nun, so schlaf wohl, mein liebstes Leben! Grüße Alles! Grüße
mir auch das Eckchen am Kommod und (eine förmliche Zeitungsfrage) frag,
ob nichts vakant wäre für zwei junge ledige Personen, die im Küssen
recht wohl unterrichtet, auch imstande wären, stundenlang das Wörtchen "amo"
durch alle casus hindurch zu konjugieren und sich einander bloß in die
Augen zu gucken, ohne einmal zu lachen, höchstens einmal, wenn der
Nachtwächter sich vernennt, und statt neun Uhr elfe ruft.
(...) Ewig Dein getreuer Eduard
Owen, den 18. Februar 1830
Abends (S. 409-414)
_____
(...) Der heutige Tag hat für mich überhaupt eine besoders einfach milde
Bedeutung. (Auch war mir noch nie eine Katechisation so gut vonstatten
gegangen wie den Morgen.) Und nun vollends Dein Briefchen am Abend!
O, Kind, glaube nur, diese liebevollen Worte, diese wenigen Linien sind
mir erfreulicher und wichtiger, als ein ehrenvolles Diplom von König und
Kaiser. Sie machten mich so guter Laune, daß ichs nicht halten
konnte, den Andern zu sagen, Du hättest mir geschrieben. "Und was denn?"
- dem Hauptinhalt nach soviel: "Sie habe mich lieb und ich soll
schreiben." (...)
Leb wohl, wohl, teuerste Seele!
Ewig Dein Treuer
Owen, den 27. Februar 1830
(S. 416)
_____
(...) Aber, mein Kind! dürft ich Dich einmal auf diesen Höhen
umherführen, einmal in Deinem Aug die Majestät dieser Berge, den
wunderbaren Wechsel dieser Beleuchtung sich spiegeln sehen und hören,
wie sich in dieser Anschauung von Schönheit ein leiser, staunender,
überwältigter Ausdruck von Gefühl Deiner tiefen Brust entreißt! Das ist
das Schwerste, was die Liebe bei der Entfernung hat, daß man die
Erscheinungen der höchsten Schönheit und des reinsten Glückes nur
einzeln genießt, daß man sich mit alle dieser Last von Wonne nicht an
eine vertraute Schulter lehnen, diesen reizenden Drang der Empfindung
nicht ruhig auflösen kann durch die Gegenwart des teilnehmendsten,
geliebtesten Wesens, ja daß man dies Wesen sich in der Ferne als
entbehrend vorstellen muß. Das Bewußtsein meiner Liebe wird in solchen
Augenblicken so übervoll in mir, daß ich mich freudeschaudernd jene
gähen Tiefen herabstürzen möchte, vom Glauben an die Allmacht meines
Glückes getragen. - - (...)
Owen, den 23. April 1830
Freitag (S. 421-422)
_____
Da bin ich! Grüß Dich Gott!
Gedächtnißblättchen
von schönen Tagen des Zusammenseins,
27. und 28. April 1830
Überraschung Luisens im Studierstübchen, eben als sie an Eduard schrieb
(wovon die letzten Zeilen). Mein Brief wird ihr als Vorläufer gebracht.
Sie liest, indes ich vor der Tür lausche - öffne halb - sie sitzt in
einem roten Halstüchelchen, das mir ihre Gestalt anfangs fremd macht. -
-
Ich freue mich der sichtbaren Liebe Deiner guten Mutter. -
Das immer schweigsame, doppelkranke Jettchen - allgemeine Teilnahme an
ihr. Abends kommt der liebe Denk, plänenschmiedend. -
Wir beide bleiben bis Nachts elf Uhr allein auf dem Studierstübchen.
Gewichtiges Gespräch. Vergleichungen. Heiliges Bewußtsein der
Unveränderlichkeit unserer Liebe und ihres höheren Ursprungs. Der
Mond geht unter. Die liebe Mutter ruft Dich zu Bette. Ich bewundre mit
Dir die mutige selbstbewußte Stimmung der lieben Rike, ihrem
eigensinnigen Schicksal gegenüber.
Morgens sechs Uhr sind wir die Ersten aus den Federn. Wir machen einen
Spaziergang zu den Wasserhäuschen, dann auf der Höhe zu der Linde;
sitzen auf der steinernen Bank. Der Wegzeiger empfängt eine liebevolle
Gedenkschrift. Zu Haus, während du die Haare wickelst, les ich die
Elegie Euphrosyne, und Alexis und Dora vor. Ich mit Fritz auf der alten
Mauer.
Wir treffen Dich und Nanny im Garten. Im hellen Sonnenschein sitzen wir
auf Schemeln und lesen in dem grünen Büchlein. Ich streife Deinen Ärmel
zurück und küsse Dein lieb Ärmlein. Zahnoperation - er geht verloren im
Gras.
Nach Tisch Kaffee, allgemeine Gesellschaft im Garten - die liebe Mutter
und liebe Mine nehmen auch freundlich Teil. Les nouveaus amants -
vis-à-vis. Ich liege selig zu Füßen meiner, ach meiner Luise! Der
Frühlingsvogel Kukuk ruft auch im Tale von Grötzingen - wie er im Tale
zu Owen oft schon meine Sehnsucht weckte. Klärchen erscheint. Ihr
Auftrag, Du sollst mit uns nach Nürtingen. Abends begleiten uns Fritz,
Dietrich Denk - letzterer schlägt mir ganz ernstlich eine Meldung nach
Grötzingen vor. Herrlicher Sonnenuntergang. Im Wäldchen, da wir nun mit
Klärchen allein sind, pflückst Du mir wilde Veilchen. Gedankenvoller
Gang in Deine zweite Heimat. Die fliegenden Maikäfer stoßen sich an
unsern Köpfen, besonders Klärchen hat ihre Not. -
Die liebe Mutter krank im Bette. Nach Tische bleiben wir noch ein
Stündchen zusammen. Ich habe Dich fest am Herzen. Wir wechseln die
Angehänge. - Ums Frührot weck ich Dich mit einem Kuß - Abschied -
Lebwohl mein Herz - Muß i denn, muß i denn zum Städtele 'naus - - -
Owen Ende April 1830 (S.
424-425)
_____
Wenn mich auch nichts anderes bestimmte, Dir, mein Herz! heute zu
schreiben, so wäre es die Bedeutung des heutigen Tages, die zu schön, zu
wichtig für mich ist, als daß ich sie nur stillschweigend feiern sollte.
Heute vor Einem Jahr geschah mein Eintritt in das Haus, worin ich meine
Liebe, das süßeste Glück meines Lebens, Dich, meine Luise! finden
sollte. Wie ahnungslos war der Einzug in das Dorf, das nur einige
blasse, halbverwischte Erinnerungen, nur eine Vergangenheit, nicht die
geringste Weissagung einer nahen entscheidungsvollen Zukunft aufwies.
Ich sah Dich, bestes Mädchen! ohne etwas mehr als Deinen Namen zu
kennen, Du warst für mich bis auf diesen Augenblick so gut als nichts
auf der Welt gewesen, wir beide standen uns wie völlig fremde Menschen
gleichgültig gegenüber, und nun - ist's möglich? - nun kann keines mehr
seine Existenz von der des Andern trennen, wir sind ein Ich und
eine Seele! - (...)
Aber wie lange doch haben wir beide uns um einander bewegt, eh nur ein
Gedanke, ein Gefühl dessen in uns aufdämmerte, was jetzt ist; eh
ein kecker Traum mir spielend einen Wunsch erklärte, den ich wachend nie
in mir gewahr geworden. Welche Tage des zufriedenen, anspruchslosen
Ineinanderlebens! Du gingst neben mir hin und fülltest die Luft mit
angenehmem Wesen; ich war mir dieses Eindrucks kaum bewußt, aber er, er
fehlte mir, wenn Du irgend abwesend warest. Ich verstand mich nach und
nach besser, besonders wenn am Klavier Du den Tag zur Ruhe sangest. Es
war, als schlösse sich dann Dein geheimeres Leben für mich auf, wie es
Pflanzen gibt, die am Abend erst leise ihre schüchternen Kelche öffnen;
doch ich dachte immer nicht über die Gegenwart hinaus. Es konnte zuweilen
geschehen, wenn Du auf dem Gang, im Zimmer oder wo sonst gleichgültig an
mir vorüberstreiftest, mich mit dem Kleid berührtest, daß michs dann
schaudrig überflog, daß all meine Seele sich sehnsüchtig Dir nachbeugte.
Aber es setzte sich kein bestimmter Wunsch in mir fest. -
Eine seltsame Empfindung muß ich Dir noch entdecken (wenn ichs anders
nicht schon getan habe), in der Du mich jedoch schwerlich ganz begreifen
wirst. Deine ganze Erscheinung, Dein stilles, verschlossenes, mißverstandenes Wesen, Deine heimlichen Besuche auf dem Kirchhof, jener
gedankenvolle, starre Blick, mit dem Du öfters, die laute Gesellschaft
überhörend, unbeweglich dasaßest, -dies alles gab Dir in meinen Augen
etwas Feierliches, Mysteriöses, ja zuweilen etwas Geisterhaftes, das mir
heilig und unantastbar war. Gewiß - so sonderbar es lauten mag - ich
stand oft gebannt in Deiner Nähe, jenen Geschöpfen nicht unähnlich,
welche durch die natürliche Zauberkraft gewisser Schlangen festgehalten
werden. Es war die süßeste Beklemmung. Hast Du mir denn niemals so etwas
angespürt? Bei weitem am Häufigsten aber fühlte ich mich ganz ruhig,
ganz harmlos und wohl in Deiner Gegenwart. Auch bedaure ich nicht, daß
jene seltsame Idiosynkrasie nun längst verschwunden ist.
Wir spielten lange Zeit, wie Kinder im Sonnenschein zusammen, ohne eben
einander entschieden zu begehren, ein Sturm mußte kommen, um den
Vorhang, der noch über meiner Seele hing, zu zerreißen; ich klammerte
mich mit Heftigkeit an Dich und wollte verzweifeln, da die Möglichkeit
erschien, Dich zu verlieren. Im nächtlichen Gewitterschein dieser Gefahr
stund Dein Bild doppelt herrlich und wunderbar erleuchtet vor meinen
Augen. Ich fühlte, ein Gott hatte die Glocke der entscheidenden Stunde
angeschlagen, er trieb, er stieß mich vorwärts, das Glück zu ergreifen,
das mir und keinem andern bestimmt war. Der Morgen kam, da die liebe
Rike mir jene Eröffnung machte - Du standest am Türpfosten der Kammer
und blicktest ernst zu uns herüber, als die Schwester mich zum
Spaziergang aufforderte. -
Nun die Szene zwischen Dir und mir in der morgendlichen, goldengrünen
Gartenlaube! "Mein Herz hat entschieden", sagtest Du endlich. -
Mir stürzte ein Fels von der Brust, und doch welche Angst war in uns
Beiden! -
Hinweg, hinweg über diese schwindelnde Kluft! vorwärts bis zu dem Abend,
der endlich die Schwester von Tübingen zurückbrachte. Ich sehe sie noch,
erschöpft vom Wege, auf ihrem Sessel; endlich fällt ihr Blick auf mich,
sie hatte Mitleid mit meinem Zustand; ich eilte ein paar Minuten aus dem
Zimmer, um Euch Zeit zu lassen, ihr den günstigen Vorgang in Bernhausen
zu kommunizieren. Wie ich wieder eintrat, drückte sie meine Hand mit
einem zusagenden Lächeln. Du standest im Hintergrund beim Sofa und
ersahst Dir die Gelegenheit, mich, den Übrigen im Rücken, zum ersten
Kusse zu Dir herzuziehen. O wie schwankte der Boden selig unter mir! wie
zitterten meine Finger in den Deinen! wie freudig staunend blickten wir
uns an! Die Rike schien mir wie ein guter Engel; ich hätte vor der
Mutter, ich hätte vor Euch Allen auf den Knien liegen mögen. -
Weißt, eine Zeitlang ließen wirs, des eigenen Reizes wegen, noch beim
"Sie". In der Kirche von Bernhausen, Arm in Arm den langen Gang auf- und
abgehend, machten wir das schöne Du erst aus. - Nun! Du! Du! mein Kind!
was sagst Du zu dem Allen? - Ich danke Gott mit brünstiger Seele und
schließe nun diese Vergangenheit, die ach! vor einem Jahr erst ein
Unding in dem Schoß der Zukunft lag, - mit leichtem, heiterm Herzen ab.
Sie deucht mir alt, älter als zehn Jahre wohl und jung doch wie der Tag
von gestern. -
Owen, 19. Mai 1830 (S.
425-428)
_____
(...) Zuerst, mein teures, herrliches Kind, dank ich Dir für die treue
Liebe, die Dich noch in Nürtingen jenes Briefchen an mich schreiben
hieß: es tat mir unbeschreiblich wohl, es tat mir wohl und weh, so wie
mich alles, was mir in diesen Tagen von Dir begegnet, zu weichem,
sehnsüchtigem Schmerze stimmt. Ich bemerke mit Freuden, daß wir uns in
dem süßen Nachgefühl der verflossenen Tage völlig gleich sind. O
wüßtest Du, wie mir zu Mute war, als ich neulich bei meiner
Nachhausekunft (11 Uhr nachts) dieses Haus, diese Zimmer wieder betrat!
Jede Stelle, jede Wand und jeder Stuhl schien mich zu fragen: Bringst Du
sie nicht mehr zurück? wo ist das liebliche Kind, das sich eine Zeit
lang in diesen Räumen bewegte und alles ausfüllte mit seinem eigensten
Wesen, mit seiner stillen, seligen Gegenwart? (...)
Was mich bei alle dem tröstet, und was ich mir oft, wie oft, in stillem
Entzücken wiederhole, das ist: Luise war bei mir! ich lebte mit ihr
volle, reiche Tage im schönsten, reinsten Vorgefühle künftiger Zeiten! -
Ach, mein Herz, ich kann Dir nicht sagen, was mir die Erinnerung dieser
goldenen Woche ist! Ihr Wert steht gar nicht zu berechnen. Ich
fühle mich so kräftig, mutig und erquickt, und im tiefsten Grund meiner
Seele verbreitet sich eine stille, zufriedene Ruhe. - Deine reichen
Tränen vor unserem Abschied waren mir unschätzbar teure und wichtige
Zeugen Deiner mächtigen Liebe. Glaube aber, ja glaube nur, daß ihr die
meinige um nichts nachsteht! Und so leb wohl, einziges Leben! Ich küsse
Dich inbrünstig in die Ferne. Dein Getreuer.
Die zärtlichsten Grüße an Alles, was mich mag. Mährlein läßt bestens
grüßen: wir haben wirklich eine sehr fruchtbare, wissenschaftliche
Lektüre, die uns eifrig beschäftigt.
Ich lasse den Brief unversiegelt durch meine liebe Mutter an Dich
gelangen, damit sie das Nötige daraus für sich entnehme - weil mir die
Zeit zu einem zweiten an sie gebricht.
Ich kann diesmal mit meinen Worten kaum zu Ende kommen, so voll ist mir
die Seele gegen Dich. Mir fällt unser neulicher Abschied beim Hardter
Wäldchen wieder ein. Ich hatte, eh Du von mir gingest, noch so manches
für Dich auf der Brust, doch war mir die Kehle wie zugeschnürt, denn der
Augenblick drängte und war auch der rechte nicht. (Nun hat der Brief es
ausführlich getan.) Als Du Dich schon rückwärts gewandt hattest und die
ersten Gebüsche mir Deine Gestalt bereits verbargen, mußte ich
unwillkürlich stillstehen und lauschen; mir war, Du würdest noch einmal
hervorkommen, wir müßten uns nochmals, von aller Welt ungesehen, um den
Hals fallen, und das Letzte, unausgesprochene Wort der Liebe uns aus den
Augen nehmen. Aber die Büsche blieben still und taten sich nicht wieder
auf. Ich wollte Dir nach, Dich zurückrufen . . . [Lücke] oder vielmehr,
ich wußte nicht, was ich wollte. Aber eine unbeschreibliche Wehmut, ein
schreckhaft Gefühl von Verlassenheit bemächtigte sich mein in diesem
Augenblick. - Ich ging langsam weiter - da kam ich vor den umgehauenen
Baumstamm, worauf Du einmal gesessen und ich mich an Deine Knie gelehnt.
Diese Erinnerung überwältigte mich ganz, ich hätte niedersinken und laut
weinen mögen.
Owen, den 17. Juli 1830
(S. 436-438)
_____
Liebstes Herz!
Am Samstag, als die Predigt geschrieben und die Feder gewischt war, ich
betrachtend unterm Fenster stand und den warmen Strahl der winterlichen
Sonne, wie er aus dem zärtlichen Blau des schüchtern geöffneten Himmels
drang, begierig in Aug und Seele sog und eine leise Frühlingsahnung
(sehr vorzeitig, nicht wahr?) mich anhauchte und mir war, als müßten die
Veilchenkeime dort an der gelben Gartenmauer sich schon sehnsüchtig
rühren unter ihrer Decke: da kamen Gedanken der Liebe von fernher in
seligem Gewühl, jauchzend, wehmütig, und lockten mich fort - errätst Du,
wohin?
In der Tag, ich entschloß mich urplötzlich, Dich am Sonntag noch einmal
in Nürtingen zu ergreifen und dachte mir alles aufs lieblichste aus. Ich
nahm beim Mittagessen die beste Sorte guten Humors zusammen, um mein
Vorbringen glücklich einzuleiten, und es fand auch den mindesten Anstand
nicht. Da kam Dein Briefchen vom Freitag und blies mein Luftschloß in die
Wolken. Denk Dir, mein Herz, wie mir nun war! Ich ließ die Flügel hängen
und wollt in Gottes Namen bleiben. Aber der kam, eine langweilige
Kaffeevisite nach den Kirchen wartet auf mich, die Ungeduld ließ mich
[nicht] ruhn, ich nahm Handschuh und Hut und - eilte dem Tiefenbach zu.
Dein unvergleichlich lieber Brief hat mich begleitet. Ich danke Dir aufs
innigste für diese kostbaren, lebhaften Zeilen; nie hat mich die
Tübinger Luft, seitdem ich sie nicht mehr gefühlt, so heimatlich
angeweht, wie diesmal aus der Frische Deiner Worte. Ja, dabei soll es
auch in Wahrheit bleiben, daß wir vom Frühling dort ein paar Tage blühen
sehen. - (...)
So lebe wohl, mein Kind, und wenn Dirs gestern und heute im Ohre klang
oder am Herzen zog, so denke, daß mir Klärchen oder die Mutter von Dir
erzählten in diesem Augenblick, und daß ich Dich, ganz wie Du bist, in
einem Himmel seliger Gedanken trug! Oft, wenn ich einen Gegenstand
ansehe, der kürzlich noch mit Dir in Berührung kam, so zückt ein Blitz
von Freude und Wehmut in mir auf, und ich habe zu tun, um die Ruhe in
mir herzustellen.
Leb wohl, mein Engel!
Ewig Dein treuster Eduard.
Nürtingen, den 25. Januar
1831 (S. 449-451)
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Hattest Du denn, teuerstes Kind, eine Ahnung von dem, was mich am Abende
Deiner Heimfahrt nach Nürtingen im Tiefsten bewegte? Sieh! mir war, als
löste sich ein Teil von meiner Seele ab, ich stand wie betäubt in meiner
Einsamkeit und hörte nur immer, indes die Dämmerung traurig niedersank,
das Rollen der Räder im Ohr, die Dich entführten; ich sah, wie mein
liebliches Kind, den Kopf in die Ecke geschmiegt, das graue
Schattenspiel der äußeren Welt an sich vorüberfliehen ließ, während in
seinem Innern die Gedanken unschlüssig zwischen Lust und Wehmut
wechselten.
In unabsehbar langer, magischer Perspektive zog das geliebte Nachtbild
vor mir hin, und als ichs endlich aus dem Gesichte verlor, als der
letzte Hufschlag verhallt schien: da erschrak ich erst über die düstre
Totenstille, die in mir und um mich herrschte. Zu Scharen drang sich mir
nun auf, was ich Dir noch zu sagen, worüber Dich noch zu beruhigen
gehabt hätte. Ach, und am Ende war es doch nichts anders, als was Du
bereits wußtest, was Du Dir selber sagen konntest.
Den andern Tag hatt ich teils in der Kirche, teils am Pulte zu tun. Nie
fühlte ich ein lebhafteres Bedürfnis, ein durstigeres Verlangen nach
derjenigen Beruhigung, welche mein Beruf unmittelbar mit sich bringt,
und doch - nie fühlte ich mich unfähiger, Hand an die Arbeit zu legen
und meiner Empfindung irgend eine Form zu geben. Das Evangelium hielt
mir seinen ganzen Frieden entgegen und lockte mich tief und tiefer in
jene Abgeschiedenheit des Geistes, wo der Engel unserer Kinderjahre uns
wieder begegnet und mit uns weint. Aber was ich hier empfand, das
gehörte nur mir, gehörte nur Dir: ich konnte die Brücke zur Predigt
nicht finden, und was dort lauteres Gold gewesen war, das wurde stumpfes
Blei, wenn ich die Feder ansetzte. Eine ruhige Trauer umhüllte mir jeden
Gedanken. Jetzt kann ich diesen Zustand nicht anders nennen als
eine hypochondrische Exaltation: ich erkannte das gestern schon
deutlich. Man hatte mich zu einem jungen Menschen gerufen, ihm das
Abendmahl am Krankenbett zu reichen; hier brach mir einigermal das Herz,
und ich mußte, während ich die Legende verlas, die Stimme mit Gewalt
zusammennehmen und die Tränen verbergen. Zu Hause nun wieder, mitten im
verdrießlichen Zusammenleimen meiner Predigt, überrascht mich mit einmal
der Gedanken: "Vielleicht bekomm ich noch heute ein Wörtchen von Luise." Und
schon diese Hoffnung erheiterte plötzlich meinen ganzen Gesichtskreis.
Auch stand es wirklich keine Stunde an, so waren Deine liebevollen
Linien vom Samstag früh in meinen Händen, die ich denn nun wohl zehnmal
nach einander las und an den Mund drückte.
Daß ich heute, gestern und vorgestern kaum eine Spur meines körperlichen
Uebels wahrnahm, macht mich nicht wenig froh und wohlgemut, und indem
ich das bisher Geschriebene wieder durchlaufe, gereut michs fast, Dich
mit meinen Quälereien unterhalten zu haben. Aber wem soll ich mich
eröffnen, wenn ich es gegen Dich nicht darf? Und versprachen wir uns
nicht, einander treulich alles mitzuteilen? - Vom kommenden Sommer hoff
ich mit Zuversicht das beste. Glaube mir! es wird alles gut gehen. Ich
fühle es wohl, daß mir die Unfälle in Scheer auch alles andere in einem
zu trüben Lichte malen.
Im Pfarrhause hat man - doch ohne alle Empfindlichkeit - herzlich
bedauert, Dich nicht gesehen zu haben. Sie grüßen Dich besonders.
Nun leb wohl! Erhalte mir die Liebe der Deinigen! Ich küsse und
umarme Dich
mit treuster Liebe
ewig Dein Eduard
Owen, den 20. Februar 1831
(S. 454-456)
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(...) Mich tröstet Deine Liebe über alles; das glaube nur! O
wärest Du zugegen gewesen, als ich Dein Briefchen (vom Donnerstag den
24.) erhielt! Nun wahrlich weiß ich erst, was ich schon längst zu wissen
glaubte, warum die Kraft der Liebe eine göttliche heißt, und was der
Gipfel ihres Segens ist. So lange Du mir lebst, hab ich die volle
Bürgschaft meines Glückes und einer ungeschwächten Tätigkeit, die mich
für manches andere entschädigt.(...)
Owen, den 7. März 1831 (S.
458)
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(...) Zuletzt zu lesen
Teuerste, einzige Luise!
Es werden bald zwei Jahre, seitdem ich von Nürtingen aus in einer
stillen Nachtstunde jenen Brief an Dich schrieb, worin ich, von der
Angst Deines Verlustes gepeinigt, um Deine Liebe, um Deinen Besitz
flehte. Zwei Jahre bald, seitdem Du mein Glück entschieden hast, und
nichts hat indessen diese Entscheidung mehr wankend gemacht. Aber aufs
Neue wird die Wage unruhig, und - wer hätte es glauben sollen? - ich muß
es sein, der sie diesmal in Bewegung setzt. Doch nur von Dir, von
Deinem reinen Willen hängt es ab, wie sie aufs Neue und dann auf ewig
zum Stillstand kommen soll.
Laß Dich diese Worte nicht erschrecken! Was damals das höchste Ziel
meiner Wünsche, mein heißestes Gebet gewesen war, das ist es noch in
diesem Augenblick. Ich schwöre Dirs im Angesichte Gottes: Du bist
die Ruhe meines Lebens; das Schönste, Heiligste, was die Erde für mich
hat, bist Du. Die Bande, die mein Leben an das Deine schlingen, haben
sich in dieser Zeit eher tausendfach verstärkt, als daß sie auch nur um
eine Linie nachgelassen hätten. Ach, das weißt Du wohl, das sagt
Dir jeder meiner Briefe, Dir sagts Dein eigenes Herz. Mich faßt ein
Schauder bei dem unerhörten Gedanken, daß wir, Luise, wir uns
jemals wieder fremd werden könnten. Und wenn ein Gott vom Himmel mirs
geweissagt hätte, ich würde, vor wenig Wochen noch, keinen Sinn darin
gefunden haben, ich hätt ihm nicht geglaubt, oder dieser Glaube würde
mich zur Verzweiflung gebracht haben. In diesen neuesten Tagen des
Unglücks und des Jammers vollends glaubt ich mit feurigen Armen des
Geistes Dich umklammern zu müssen; denn dies sind die Zeiten, von denen
man sagt, daß, um sie zu tragen, man zu zweien sein muß. Bald aber kamen
auch Stunden ruhiger Ueberlegung, wo ich mehr Deiner als meiner
gedachte. Auf Augenblicke gewann ich die Stimmung, wo der selbstsüchtige
Wunsch des einen sich dem Wohl des andern opfern lernt, wo die Liebe
Hand in Hand geht mit der Entsagung. O Kind, mißdeute mir nichts! Nur um
eine Frage ist es zu tun, die ich an Dein Herz richte; ich habe
keine Absicht, und kein Falsch lauert hinter meinen Worten. Der Himmel
ist mein Zeuge, daß ich ehrlich, offen und gut mit meiner Luise handle;
ich habe im Gebet mein Herz ausgeschüttet vor Ihm und nicht, ohne Ihn zu
fragen, den Entschluß zu diesem Briefe gefaßt. Keine Seele, auch meine
Mutter nicht, weiß darum. Am allerwenigsten laß Dir den Gedanken
beigehen, als leite mich hiebei irgend eine phantastische Grille, ein
Kitzel überspannter, selbstgeschaffener Schmerzen, oder meine Eitelkeit
wolle sich einen voraussichtlichen Triumph unserer Liebe bereiten, oder
ich wolle Dich prüfen. Nichts von dem allen, bei Gott! Ich möchte die
Sünde nicht verantworten, so grausam mit dem Herzen eines Engels zu
spielen. Nein, sondern meine ernste Liebe zu Dir, mein Gewissen
und Verstand verlangen, was ich wahrlich ungern tue.
Owen, den 30. März 1831
(S. 463-465)
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Liebstes, bestes Herz!
Es ist Sonntag halb 4 Uhr: ich hatte noch bis den Augenblick auf einen
Besuch meines Bruders Louis gewartet. Die Kirchen waren vorüber, und die
Unschlüssigkeit, was ich nun tun und treiben sollte, scheuchte mich
ungeduldig von einer Stube in die andere, von einem Fenster zum andern.
Die Frau Pfarrerin (gestern kam sie an) saß einsilbig und griff nach
einer sonntäglichen Lektüre, Rikele machte Musik, und ich sah bald den
Störchen auf'm Kirchdach, bald des Nachbars weißen Tauben, bald den
Wolken zu, die ein Gewitter vorbereiteten.
"Wenn ich ein Vöglein wär
Und auch zwei Flüglein hätt"
- das übrige weißt Du - "flög ich zu Dir." Nach dieser Weise gingen
meine Gedanken. Ich stellte mir die letzten Stunden unseres
Zusammenseins vor, ich ging weiter in die letzten Wochen zurück und sah
mich Dir in allen Situationen gegenüber: auf dem schattigen Stege, wo
wir den Faust anfingen - an der Ecke des lieben Wäldchens, wo er
beendigt wurde - auf dem Rückweg von Nürtingen nach Grötzingen nachts in
der herrlichen Mond- und Nebelbeleuchtung - auf der letzten Höhe von
Plattenhardt herüber, wo Deine Tränen mir das Herz zerrissen - im
Gärtchen zu Grafenberg, die Laube, das Mäuerchen, unsere Scherze im
Angesicht von Hohenneuffen - der Besuch auf dem Grötzinger Turm am
Markttag - dies und noch manches, ohne strenge Chronologie, wie sich die
Blätter meiner Erinnerungen eben zufällig auseinanderschoben, stand
wieder frisch und reizend vor mir auf. Wie ist es so schnelle anders
geworden! Wie sehr verändert hat sich die Szene! Dort durft ich kaum
zwei Schritte gehn, ein Boden, eine Treppe war zwischen uns, ich war in
jedem Augenblick gewiß, Dich irgendwo zu finden, sei es am Herde in der
Küche oder beim Bügelbrett im Öhrn, wo denn trotz Rauch und Dampf ein
Paar rote Lippen sich jederzeit gefällig zeigten. Ach, Schätzchen, und
nun wär ich zufrieden, nur zu wissen, auf welchem Fleck des Hauses oder
Felds Du im Moment, da ich dies schreibe, den lieben Fuß aufsetzest, was
Deine Hand berührt, worauf Dein Blick ausruht! Das könnte mich
glückselig machen. Vor wenig Tagen noch ein Fürst im Ueberflusse Deiner
Liebe: jetzt nasch ich an jedem verlorenen Bröselein und fühle wohl, daß
es nicht sättigt.
Wenn ich ein Vögelein wär! - So verließ ich vorhin das Fenster und meine
Pfarrleute und lief den Grillen nach auf meiner Stube. Ein prächtiger
Akkord des schnell entwickelten Gewitters gab meinen Träumereien
plötzlich eine kräftigere und freudigere Gestalt. Es war, als zerrisse
ein Flor in meinem Innern: ich fühlte mich frei und erhoben, ja ich
empfand mich Dir näher, und als die Schläge des Donners so heftig
wurden, daß die Gegend meilenweit davon erschüttert schien, konnt ich
mir einen Augenblick einbilden, derselbe Donner, den ich eben höre,
müßte auch zu Deinem Ohre dringen, ja vielleicht schaudern unsre Nerven
in einer und der nämlichen Sekunde zusammen und unsre Seelen berühren
sich im Nun des Blitzes.
Jetzt goß der Regen in nasser platter Prosa nieder. Ich sah mich nach
einem Zeitvertreib um, und die Zeichnung mit den drei Kindern fiel mir
in die Hände: ich sah die Gestalten wehmütig an, indes ich das Bleistift
schärfte. - O, dacht ich, wie ist hier doch jeder Strich Verschwendung!
Die tausend eifrigen und liebevollen Blicke, die ich, fast ohne
aufzusehn, an diese Linien verlor - jeder einzelne hätte können ebenso
gut auf der Gestalt der Liebsten ruhn, die nur drei Schritte von mir
saß! - Und doch, das ist eigentlich eine ungerechte Selbstanklage: fühlt
ich denn nicht, indes die Augen Dir untreu waren, den ganzen Zauber
Deiner Nähe mir ruhig und befriedigt am Herzen hin und wieder spielen.
Und ging Dirs nicht ebenso, derweil Deine Finger mit der Nadel
verkehrten? O süße Viertelstunden, wo Liebende ein ganz erstaunlich
großes Opfer zu bringen glauben, wenn Sie einmal freiwillig es über sich
vermögen, zwischen einerlei Wänden (und ohne Zeugen an verschiedenen
Tischen sitzend) weder mit den Händen noch den Lippen noch den Augen
Notiz voneinander zu nehmen! Wers recht versteht, weiß freilich wohl,
daß das eigentlich nur eine raffiniertere Art, sich liebzuhaben, ist.
Aber sieben Stunden auseinander - ich gestehe Dir: dieses Raffinement
ist doch etwas zu stark.
Dort auf dem Stuhl an meinem Bette liegt das gelbe Tüchlein, das Du hier
an dem Abend, als ich von Leonberg zurückgefahren kam, gegen Zahnweh
umgebunden hattest; ich hab es indessen schon mehr als einmal voll
herzlicher Sehnsucht nach Dir an mein Gesicht fest angedrückt, dann es
wieder sachte bei Seite gelegt und nicht gewagt, es umzubinden, gewiß
nur, weil ich mir einbilde, es wäre dann nicht mehr so frisch und voll
von Dir, und ich dürfe die ursprünglichen Falten, die es durch Dich
erhielt, nicht verändern. Hoffentlich wirst Du mir diese rührenden
Armseligkeiten eines liebeheimwehkranken Herzens nicht verlachen. (...)
Eltingen, 7. August 1831
(S. 478-479)
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(...) Frühling und Liebe, das ist doch gewißlich wahr, stehn in einer
Wahlverwandschaft, die ich schon wieder durch alle Nerven spüre. Warum
warst Du mein erster Gedanke, als gestern ein Kind uns einen
Strauß frischer Schneeglöckchen brachte? - Sie stehen hier bei meinem
Schreibzeug und ich pflücke Dir eins, eh ich den Brief nachher
zusammenlege; eigentlich kommt es mir vor, als wollten sie alle zu Dir
hin und seien nur für Dich gewachsen. Das Mädchen fand sie unter den
Felsen des Breitensteins. Wär es nicht möglich, daß eine süße magische
Erschütterung den Fels durchzuckt hätte, als Du neulich Deinen Fuß dort
aufsetztest, und daß diese Knospen in jenem Augenblick zum ersten Mal
sich öffneten? (...)
Ochsenwang, den 25. März
1832 (S. 495)
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Seele!
Der zweite April hat mir Rosen getragen, d. h. auf gut deutsch: vor
sechs Tagen habe ich ein liebes, liebes Briefchen von meiner Teuersten
auf dem bewußten rötlichen Papier samt einer kostbaren Beilage auf
weißen erhalten. Ich schreibe Gegenwärtiges auch auf rotem: doch ist es
nur der Schein durch den bekannten Fenstervorhang, auf den die
Morgensonne fällt, und der alle Wände und Flächen mit dieser sanften
Glut beleuchtet. Nie seh ich diesen angenehmen Schimmer mein Stübchen
besuchen, ohne zu denken, daß er vor noch nicht langer Zeit auf Deiner
Stirn, auf Deinen lieben Fingern lag, und so berausch ich mich wohl
ganze Viertelstunden in dieser purpurischen Nacht der süßen Gedanken,
der lieblichsten, zärtesten Wehmut. Ich sage "Nacht" und "Purpur", denn
jene lichte Dämmerung verdichtet sich zuletzt auch wohl, je tiefer die
Gedanken gehn, bis zur dunkel-seligen Selbstvergessenheit, wo die äußern
Sinne sich zu schließen scheinen, alles, was uns umgibt, verschwindet
und versinkt und die innerste Seele die Wimpern langsam erhebt und wir,
nicht mehr uns selbst, sondern den allgemeinsten Geist der Liebe, mit
dem wir schwimmen, wie im Element, empfinden. (...)
Ochsenwang, den 8. April
1832 (S. 497)
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(...) Blick her! neig mir Dein Herz entgegen! leg in Gedanken Deine Hand
hieher, wo sie oft geruht hat! im vollesten, erschöpfenden Gefühl,
daß wir uns ganz und ewig angehören, daß keines Menschen Seele auf
weiter Welt sich inniger, glücklicher an Dich anschließen könne als
ich, Dein Eduard! Wärs möglich, daß ich diese Worte ins hellste
Morgenrot tauchte, damit sie, bis wir für immer nebeneinander und
umeinander bleiben, mit unauslöschlichen Zügen vor Deiner Seele stünden!
- - - (...)
Ochselwang, den 24. Januar
1833 (S. 515)
____
Aus: Eduard Mörike
Gesammelte Werke
Sonderausgabe in einem Band
Müller und Kiepenheuer Verlag o. J. [1975]
Herausgegeben von Georg Schwarz