"Mich tröstet Deine Liebe über alles ..."

Eduard Mörike (1804-1875) an Luise Rau (1806-1876)
Aus den Brautbriefen
 

 

 



(...) Mein Kind! wann werd ich denn aufhören können, mich immer aufs Neue wieder über Dich und mich zu verwundern und zu fragen: wie ist das Alles geschehen?! Aber ich wollte, die Zeit käme nie, wo ich das nimmer frage! Ich meine, das wäre schon ein Vorbote des Todes unserer Liebe. Oder muß die Liebe nicht mit jedem neuen Morgen über sich selber, als über ein Wunder, erstaunen und freudig zusammenschrecken? Ist sie bei Dir anderer Art? Es mag sein, und ich glaube es fast, aber es macht mir nicht bange.
"Gerne denk ich mir Dich stets als ein eigenes Kind."
Ich muß abbrechen, sonst mach ich Dir den Kopf toll mit Ergießungen, die Du nicht liebst. Morgen nachts neun Uhr wird mein Schatten im Widerschein Eures Lichts an der Kirchenwand neben dem Deinigen erscheinen; da sprich ein wenig mit ihm! ich wills in der Ferne hören. Hab ich doch heut schon mit Deinem blaugestreiften Kleid leise Gespräche geführt, das vor dem mittleren Fenster in der Wohnstube an der Stange trocknet. Wäre es nicht gar hübsch gewaschen, ich hätte es wohl geküßt in der phantastischen Hoffnung, daß noch ein par geistige Atome Deines Wesens in den Fäden steckten. (Lachst Du?) (...)
Plattenhardt, den 2. September 1829 3 Uhr nachmittags (S. 377)
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Es ist nachts elf Uhr; ich war schon zu Bette, konnte aber nicht in Schlaf kommen, zündete Licht an und rede nun noch ein wenig mit Dir; morgen früh hätt ich den Bauern ohnehin nicht fortgelassen, ohne Dir für Dein Gestriges gedankt zu haben. Ja, Dein gestriges Briefchen! Sieh, mein Kind, ich sage Dir - und das mußt Du buchstäblich für Wahrheit nehmen, ich habe nie in meinem Leben, daß ich wüßte, ein geschrieben Wort gelesen, das mein ganzes Wesen so entzückt, so rein über sich selbst erhoben hätte wie dies! Was soll ich noch weiter sagen? Amen also, und glaube Du's.
Höchst merkwürdig war mir das wunderbare Zusammentreffen unseres Nachblickens, wovon Du schreibst, um so mehr, als ich mich nur dies Einzige Mal umkehrte und demnach in eben dem Augenblick, das Du ans Fenster tratst. "Wunder hat die Liebe viel", sagt Herr Ludwig Uhland.
Kaum hatt ich Deinen Brief bis auf den letzten verborgenen Honigtropfen ausgesogen und jede Silbe, jeden leisen Gedankenübergang mikroskopisch durchdrungen, so hör ich auf dem Gang eine derbe Stimme, die nach mir fragt. (...)

(Etwas später)
Jetzt gute Nacht, Luise! meine Luise! - Dieser Name läuft, wie ein sanftes Echo, den Tag über und die Nacht durch mein Innerstes. Es ist eine heilige Stille um mich. Draußen liegt alles klar, wie am Tag. Der Mond zeichnet die drei vordern Fenster hell auf den Boden der lieben Stube, worein diesen Augenblick vielleicht ein lebendiger Traum Dich mit mir einführt - vielleicht ist jetzt ein heller Sommermorgen unter Deinem geschlossenen Augenlide - ach, wie einst, wenn ich früh herüber kam und Dich allein bei der Arbeit schon unterm Fenster sitzend fand, selber blühend Du wie der Morgen - wir sind einander noch fremde, höfliche Gestalten - Du grüßest mich halblaut von fern - - Erwach! Erwache, mein Kind, und gedenke, daß ich Dein geworden bin seit jener kurzen Zeit! -
Welch eine unbeschreiblich schöne Nacht! - Ich öffne ein Fenster, höre die Melodie des Brunnens - blicke aufs Gärtchen hinunter - alles so leicht, so geistig in Schatten und Licht! Wie schwimmend sind alle Gegenstände.
Könnt ich Dich eine Minute lang haben! Nicht einen Kuß gäben wir uns - sondern stille, staunend, andachtvoll säh' ich Dich mir an die Seite gezaubert wie eine leichte Verkörperung meines heiligsten Gedankens, die ich nicht zu berühren wage, die leisen Tritte wieder entweicht, aber in mir eine unnennbare Seligkeit zurückläßt, die mich in den Schlaf hinüber begleitet.
Ist mir aber nicht jetzt schon so zu Mute? Tritt, o Kind, diesen Augenblick herein! und ich will nicht erschrecken, will nicht fragen: Bist Du Luftbild oder Leben? Ich wäre auf jedes Wunder gefaßt - - Zwölf Uhr. Schlaf wohl!
Plattenhardt, den 9. November 1829 (S. 381-383)
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Für Dich allein
Kaum bin ich hier angelangt, bestes Kind, so gibt es schon wieder Gelegenheit, die Madel nach Grötzingen zu schicken, und ihr ein liebes Wort an Dich mitzugeben. O Herz! wie seltsam hat es die kurze Zeit, als ich von Dir bin, in meinem Innern gewechselt! So lang ich unterwegs war und in der frischen glänzenden Winterluft, wiegten sich meine Gedanken nur in einer Art von glücklicher Dumpfheit hin und her, kaum saß ich zu Haus, so fehlte mirs an allen Ecken und Enden, eine unerklärbare Unruh kam über mich; nicht blos das Heimweh nach Dir, nicht die Starrheit der alten Einsamkeit, nein, eine ganz neue unbekannte Trauer zog mir die Brust zusammen, aber Deine Gegenwart, ein Wort von Dir hätte mir doch allein geholfen.
Ich warf mich matt und abgespannt aufs Bette und fand, wie seit langer Zeit nicht, wieder eine Zuflucht in dem Troste unverhaltner Tränen. Es ist das einer von den rätselhaften Augenblicken, von denen es heißt: sind wir ein Spiel von jedem Druck der Luft?
Du hast Dich deswegen auch nicht drum zu kümmern und ich hätte füglich nichts davon gesagt, wenn mirs nicht eine Erleichterung, ein Bedürfnis wäre, Dich eben in dieser Wehmut herbei in meine Arme zu ziehen, gerade jetzt Dir zu sagen, wie ganz Du mich durchdringest!
Mir ist wohl und weh; - da brennt stille das Licht vor mir und wie es ruhiger in meinem Innern wird, hab ich einen von den seltenen und geweihten Momenten, wo der Mensch gleichsam mit angehaltenem Atem auf den Grund der eigenen Seele niederschaut oder den geheimsten Puls seines ahnungsvolleren geistigen Lebens fühlt. -
Liebes Kind! ich schließe, denn ich wüßte Dir fürwahr nicht mehr zu sagen. Heute nehm ich Dich so innig wie noch nie in mein Gebet. Gute Nacht!
Leb wohl! Dein Eduard
Plattenhardt, den 2. Dezember 1829 Mittwoch Abend (S. 386-387)
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(...)
Neulich, mein teuerstes Herz, als ich nach dem Abschied von Dir alleine meinen Weg so fort ging und die Nacht wie in immer dichteren Schichten leise niedersank, ich rund um mich keinen Laut mehr hörte, als meinen eigenen Fußtritt, und der Mond auf seinem rein blauen Feld nun sich so ruhig die alte Erde, so ruhig wie vor tausend Jahren auch, beschaute, da dacht ich: Wie viel Elend und Not siehst Du nun in diesem Augenblick hier unten, so weit Menschen nur atmen - und doch, wie viel Seligkeit auch! Ich verdoppelte unwillkürlich meine Schritte, voll von dem Gefühl, daß auch ich einer von den ganz Glücklichen sei! Ich schauderte einen Augenblick vor der Größe und vor der Wirklichkeit meines Glücks; - denn, gibt es nicht solche seltene Momente, wo gleichsam ein rascher Blitz des innersten Bewußtseins und das, was wir besitzen und sind, in seiner ganzen Gestalt sehn läßt - in der überwältigenden Fülle seiner Wirklichkeit, während es dann scheint, als wäre man bisher nur wie in einem gewöhnlichen Traum befangen gewesen? Da ist es mir denn, als rührte plötzlich ein Gott meine Schulter mit der Hand und ich schlüge hell die Augen auf - aber nur, um dann gleichsam wieder von einem wachen Traum in den andern zu stürzen, vergeblich ringend, das Wunder zu begreifen, das mich so glücklich macht. O liebe, liebe Luise, es ist wahrhaftig kein leeres Wort, wenn ich Dir sage, daß ich in solchen Augenblicken mich zu jener himmlischen Genügsamkeit erhoben und fähig fühle, welche in dem bekannten Ausdrucke liegt: "- - Rufe Dein Kind zurück! Ich habe genossen das irdische Glück! ich habe - usw." -
So viel, meine Teuerste, wollte ich diesen Abend noch schreiben, um auch nur Eines Tropfens von dem seligen Meer los zu werden, das mir oft die Brust sprengen will. Gute Nacht! schlaf wohl - diese Worte riefst Du mir noch zuletzt auf der Höhe des Bergs nach, und seitdem verlassen sie mit ihrem Klang mein Ohr nicht mehr. Gute Nacht! schlaf wohl! -
Plattenhardt, den 4. Dezember 1829 Freitag abends (S. 388-389)
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(...) Dein Gestricktes liegt immer vor mir; gestern sah ichs mit dem Gedanken an: da hat mein Kind doch wenigstens auch bei jeder fünften Masche an mich gedacht! In jeder fünften Masche hängt also doch ein Gedanke eingebaut - die muß ich alle einzeln und durch Küsse erlösen, sonst läßt mir das Zaubernetz keine Ruhe.
Aber daran, liebes Herz, muß ich nun doch gelegentlich eine Warnung und eine Bitte knüpfen - sie betrifft Deine Augen! - Im Ernst, es fiel mir recht schwer auf die Seele, daß Du vielleicht viel bei Nacht gearbeitet hast. Nicht wahr - Das läßt Du künftig! (...)
Plattenhardt, Samstag den 5. Dezember 1829 (S. 389)
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Guten Morgen, liebste Seele!
Es liegt für mich etwas Angenehmes darin, die erste Morgenstunde des Tages Dir zu widmen, eh ich noch ein Wort mit andern gesprochen, und solange das Innere, noch unbewegt von der Außenwelt, rein und glatt wie ein Spiegel liegt. Du kennst doch jene stille Frühstimmung des Herzens, wo man sich bewegt fühlt, man weiß nicht, von was, aufgelegt zu jeder guten Tat; es fehlte wenig, und man würde in die seligsten Tränen ausbrechen. Es ist (wie das Sprichwort in anderer Beziehung sagt), als wäre ein Engel durchs Zimmer gegangen; die Seele fängt gleichsam von sich selber zu tönen an, wie jene Harfen, auf denen die Luft spielt. O Liebste! das hast du hundertmal empfunden, gewiß; weißt Du, an jenen goldigen Sommermorgen, wenn Du, die Erste im Haus, schon bei der reinlichen Arbeit am Fenster saßest? Eine so milde Sehnsucht zieht mich jetzt zu Dir, mein ganzes Wesen hat nur eine stete Richtung, und ich fühle mich jetzt seit vier Tagen wieder zum erstenmal Dir und mir ganz gegeben; denn seit ich in Nürtingen gewesen, ohne Dich sehen zu können, war ich wie in zwei Teile gespalten, ich fehlte mir überall. Am Donnerstag, wie ich hier angekommen war, auf mein einsames Zimmer trat, Hut und Stock ablegte, fuhrs mit Einmal in mich hinein wie das Bewußtsein eines unwiederbringlichen Verlusts; wahrlich, mein Herz wimmerte in mir wie ein Kind und klagte mich bitterlich an, und doch wußt ich mich ohne Vorwurf; fast hätt ich aber mit ihm geweint. Nun ist Alles wieder gut; ich denke, wir küssen uns bald anders als blos auf dem Papier. Dein letzter Brief (der in der Christtagsschachtel lag) glühte mir in der Hand, und ich weiß nicht, war es seine oder meine Glut.(...)
Owen, den 4. Januar 1830 (S. 399-400)
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Für Dich allein
Die Liebe ist gleich unersättlich im Austeilen und Hinnehmen immer neuer Schwüre, und so wird es uns stets ein glückliches Bedürfnis bleiben, das alte "Wie lieb ich Dich!", welches Dein letzter Brief, doppelt unterstrichen, wiederholt, wechselseitig zu hören und hören zu lassen. Es ist derselbe einfache Akkord, der, so oft Du ihn anschlagen magst, jedesmal wieder neu und mit nie erhörtem Zauber in mir nachklingt. Diese süße Wiederholung, worin man sich selber nie ein Genüge tut, gleicht fast einem lieblichen Spiele, das etwa darin bestünde, daß Du ein goldenes Gefäß mit köstlichem Wein in ein anderes gössest, damit ich den immer frischen Perlenschaum schnell vom Rande sauge, um sodann Dir wieder einzufüllen, daß Du das gleiche tuest, und so fort - ohne unsern Durst löschen und den Wundertrank zur Neige bringen zu können. Ist das ein Spiel, so ists ein solches, wie die Engel es treiben, und wir schämen uns seiner nicht. Glaubst Du, es könnte eine Zeit kommen, wo wir dessen satt werden? Ich kanns nicht denken; mich schauert, wenn ichs denke!
Wie lieb ich Dich! So ruf ich Dir heute zu und werde es noch, wenn jene Tage kommen, welche so manches Andere an mir abstreifen mögen, was jetzt noch Hand in Hand mit meiner Liebe geht.
Wenn ich manchmal in Gedanken dem Ursprung unserer Liebe nachgehe, wie man dem Gange und allen sanften Krümmungen eines Flusses folgt, so verschwimmt das Ganze vor meinem Blick wie in ein einzig unermeßliches Meer, auf dem ich staunend all mein Sinnen zerfließen lasse. Mir ist, als hätten wir uns gehört seit Ewigkeiten, und doch -der sonderbare Gegensatz! - mir ist, als müß ichs heute erst erfahren und begreifen lernen. Dies Gefühl des höchsten Glückes wird dann so überwältigend und groß, daß es keinen Ausweg findet als im brünstigen Dank gegen den, der Alles so wunderbar gefügt. - Ich bewundere mit Tränen die Liebe des Höchsten und seine Majestät, wenn mir einfällt, - ich, der Einzelne, an dem sich das Füllhorn überschwenglicher Wonne erschöpft zu haben scheint, bin doch der kleinste Teil nur in einer ganzen unendlichen Schöpfung, auf welche sich Ströme der Liebe stürzen. Es flutet eine Welt voll Seligkeit in mir auf und nieder - sie ist ein Tropfen, der im All verschwindet, - und doch so mächtig fühl ich mich in ihr, daß ich mir Nichts gleich mehr glaube von Allem, was außer mir und außer uns Beiden lebt; ja, wenn der Lobgesang aus tausend glücklichen Kehlen sich in Einem breiten Strome himmelan schwänge - ich könnte zweifeln, ob er der Empfindung meines einzelnen Glücks gleich käme, und doch fühlte von den Tausenden ein jeder vielleicht dasselbe, was ich und was Du.
Sich aber gerade dies recht klar und innig bewußt zu bleiben und deswegen in Andern sich doppelt zu freuen, das mag ein charakteristisches Merkmal jener Seligkeit sein, wie sie im Himmel zu Hause ist, wo alle Selbstsucht wegfällt. Aber auch hier auf Erden läßt sich eine Ahnung davon haben - in Augenblicken, die gewiß zu unsern reinsten und herrlichsten gehören. Nur leider, daß man sie nicht festhalten kann!
Liebe, teures Kind -! ich habe hier mit vielen Worten und ohne recht zu wissen, wie sie aufs Papier kamen, ungefähr das gesagt, was Du mir viel besser und einfacher mit wenig Zeilen sagst, aber nimm es hin als den wahrhaften Ausdruck meines Innersten, den vielleicht jedermann, nur Du nicht, der Übertreibung beschuldigen würde. Du bist das Einzige Wesen, das mich hierin ganz zu würdigen versteht; ich bin der Einzige, der das schöne Geheimnis Deiner Seele, Deines ganzen Denkens, Seins und Ausdrucks entschleierte, der den leisesten Laut Deines Gemüts auffängt, daß er zum vollschwellenden Gesange in mir aufgeht. Liebes Herz! Könnt ich jetzt, an Deinem Halse liegend, alle das zusammenfassen mit Einem Blick in Dein getreues Auge - -! (...)

(...) Nun scheid ich endlich von Dir. Eine gute Nacht der Kranken oder der Gesunden. Möge unser guter Genius heute unsere Träume zusammenflechten! Ich glaube, wenn es sich mit Geld erkaufen ließe, daß ich ganze Nächte im Traum mit Dir zubrächte, ich würde Hab und Gut verlieren. Nun, so schlaf wohl, mein liebstes Leben! Grüße Alles! Grüße mir auch das Eckchen am Kommod und (eine förmliche Zeitungsfrage) frag, ob nichts vakant wäre für zwei junge ledige Personen, die im Küssen recht wohl unterrichtet, auch imstande wären, stundenlang das Wörtchen "amo" durch alle casus hindurch zu konjugieren und sich einander bloß in die Augen zu gucken, ohne einmal zu lachen, höchstens einmal, wenn der Nachtwächter sich vernennt, und statt neun Uhr elfe ruft.
(...) Ewig Dein getreuer Eduard
Owen, den 18. Februar 1830 Abends (S. 409-414)
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(...) Der heutige Tag hat für mich überhaupt eine besoders einfach milde Bedeutung. (Auch war mir noch nie eine Katechisation so gut vonstatten gegangen wie den Morgen.) Und nun vollends Dein Briefchen am Abend! O, Kind, glaube nur, diese liebevollen Worte, diese wenigen Linien sind mir erfreulicher und wichtiger, als ein ehrenvolles Diplom von König und Kaiser. Sie machten mich so guter Laune, daß ichs nicht halten konnte, den Andern zu sagen, Du hättest mir geschrieben. "Und was denn?" - dem Hauptinhalt nach soviel: "Sie habe mich lieb und ich soll schreiben." (...)
Leb wohl, wohl, teuerste Seele!
Ewig Dein Treuer
Owen, den 27. Februar 1830 (S. 416)
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(...) Aber, mein Kind! dürft ich Dich einmal auf diesen Höhen umherführen, einmal in Deinem Aug die Majestät dieser Berge, den wunderbaren Wechsel dieser Beleuchtung sich spiegeln sehen und hören, wie sich in dieser Anschauung von Schönheit ein leiser, staunender, überwältigter Ausdruck von Gefühl Deiner tiefen Brust entreißt! Das ist das Schwerste, was die Liebe bei der Entfernung hat, daß man die Erscheinungen der höchsten Schönheit und des reinsten Glückes nur einzeln genießt, daß man sich mit alle dieser Last von Wonne nicht an eine vertraute Schulter lehnen, diesen reizenden Drang der Empfindung nicht ruhig auflösen kann durch die Gegenwart des teilnehmendsten, geliebtesten Wesens, ja daß man dies Wesen sich in der Ferne als entbehrend vorstellen muß. Das Bewußtsein meiner Liebe wird in solchen Augenblicken so übervoll in mir, daß ich mich freudeschaudernd jene gähen Tiefen herabstürzen möchte, vom Glauben an die Allmacht meines Glückes getragen. - -  (...)
Owen, den 23. April 1830 Freitag (S. 421-422)
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Da bin ich! Grüß Dich Gott!
Gedächtnißblättchen
von schönen Tagen des Zusammenseins,
27. und 28. April 1830
Überraschung Luisens im Studierstübchen, eben als sie an Eduard schrieb (wovon die letzten Zeilen). Mein Brief wird ihr als Vorläufer gebracht. Sie liest, indes ich vor der Tür lausche - öffne halb - sie sitzt in einem roten Halstüchelchen, das mir ihre Gestalt anfangs fremd macht. - -
Ich freue mich der sichtbaren Liebe Deiner guten Mutter. -
Das immer schweigsame, doppelkranke Jettchen - allgemeine Teilnahme an ihr. Abends kommt der liebe Denk, plänenschmiedend. -
Wir beide bleiben bis Nachts elf Uhr allein auf dem Studierstübchen. Gewichtiges Gespräch. Vergleichungen. Heiliges Bewußtsein der Unveränderlichkeit unserer Liebe und ihres höheren Ursprungs. Der Mond geht unter. Die liebe Mutter ruft Dich zu Bette. Ich bewundre mit Dir die mutige selbstbewußte Stimmung der lieben Rike, ihrem eigensinnigen Schicksal gegenüber.
Morgens sechs Uhr sind wir die Ersten aus den Federn. Wir machen einen Spaziergang zu den Wasserhäuschen, dann auf der Höhe zu der Linde; sitzen auf der steinernen Bank. Der Wegzeiger empfängt eine liebevolle Gedenkschrift. Zu Haus, während du die Haare wickelst, les ich die Elegie Euphrosyne, und Alexis und Dora vor. Ich mit Fritz auf der alten Mauer.
Wir treffen Dich und Nanny im Garten. Im hellen Sonnenschein sitzen wir auf Schemeln und lesen in dem grünen Büchlein. Ich streife Deinen Ärmel zurück und küsse Dein lieb Ärmlein. Zahnoperation - er geht verloren im Gras.
Nach Tisch Kaffee, allgemeine Gesellschaft im Garten - die liebe Mutter und liebe Mine nehmen auch freundlich Teil. Les nouveaus amants - vis-à-vis. Ich liege selig zu Füßen meiner, ach meiner Luise! Der Frühlingsvogel Kukuk ruft auch im Tale von Grötzingen - wie er im Tale zu Owen oft schon meine Sehnsucht weckte. Klärchen erscheint. Ihr Auftrag, Du sollst mit uns nach Nürtingen. Abends begleiten uns Fritz, Dietrich Denk - letzterer schlägt mir ganz ernstlich eine Meldung nach Grötzingen vor. Herrlicher Sonnenuntergang. Im Wäldchen, da wir nun mit Klärchen allein sind, pflückst Du mir wilde Veilchen. Gedankenvoller Gang in Deine zweite Heimat. Die fliegenden Maikäfer stoßen sich an unsern Köpfen, besonders Klärchen hat ihre Not. -
Die liebe Mutter krank im Bette. Nach Tische bleiben wir noch ein Stündchen zusammen. Ich habe Dich fest am Herzen. Wir wechseln die Angehänge. - Ums Frührot weck ich Dich mit einem Kuß - Abschied - Lebwohl mein Herz - Muß i denn, muß i denn zum Städtele 'naus - - -
Owen Ende April 1830 (S. 424-425)
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Wenn mich auch nichts anderes bestimmte, Dir, mein Herz! heute zu schreiben, so wäre es die Bedeutung des heutigen Tages, die zu schön, zu wichtig für mich ist, als daß ich sie nur stillschweigend feiern sollte. Heute vor Einem Jahr geschah mein Eintritt in das Haus, worin ich meine Liebe, das süßeste Glück meines Lebens, Dich, meine Luise! finden sollte. Wie ahnungslos war der Einzug in das Dorf, das nur einige blasse, halbverwischte Erinnerungen, nur eine Vergangenheit, nicht die geringste Weissagung einer nahen entscheidungsvollen Zukunft aufwies. Ich sah Dich, bestes Mädchen! ohne etwas mehr als Deinen Namen zu kennen, Du warst für mich bis auf diesen Augenblick so gut als nichts auf der Welt gewesen, wir beide standen uns wie völlig fremde Menschen gleichgültig gegenüber, und nun - ist's möglich? - nun kann keines mehr seine Existenz von der des Andern trennen, wir sind ein Ich und eine Seele! - (...)
Aber wie lange doch haben wir beide uns um einander bewegt, eh nur ein Gedanke, ein Gefühl dessen in uns aufdämmerte, was jetzt ist; eh ein kecker Traum mir spielend einen Wunsch erklärte, den ich wachend nie in mir gewahr geworden. Welche Tage des zufriedenen, anspruchslosen Ineinanderlebens! Du gingst neben mir hin und fülltest die Luft mit angenehmem Wesen; ich war mir dieses Eindrucks kaum bewußt, aber er, er fehlte mir, wenn Du irgend abwesend warest. Ich verstand mich nach und nach besser, besonders wenn am Klavier Du den Tag zur Ruhe sangest. Es war, als schlösse sich dann Dein geheimeres Leben für mich auf, wie es Pflanzen gibt, die am Abend erst leise ihre schüchternen Kelche öffnen; doch ich dachte immer nicht über die Gegenwart hinaus. Es konnte zuweilen geschehen, wenn Du auf dem Gang, im Zimmer oder wo sonst gleichgültig an mir vorüberstreiftest, mich mit dem Kleid berührtest, daß michs dann schaudrig überflog, daß all meine Seele sich sehnsüchtig Dir nachbeugte. Aber es setzte sich kein bestimmter Wunsch in mir fest. -
Eine seltsame Empfindung muß ich Dir noch entdecken (wenn ichs anders nicht schon getan habe), in der Du mich jedoch schwerlich ganz begreifen wirst. Deine ganze Erscheinung, Dein stilles, verschlossenes, mißverstandenes Wesen, Deine heimlichen Besuche auf dem Kirchhof, jener gedankenvolle, starre Blick, mit dem Du öfters, die laute Gesellschaft überhörend, unbeweglich dasaßest, -dies alles gab Dir in meinen Augen etwas Feierliches, Mysteriöses, ja zuweilen etwas Geisterhaftes, das mir heilig und unantastbar war. Gewiß - so sonderbar es lauten mag - ich stand oft gebannt in Deiner Nähe, jenen Geschöpfen nicht unähnlich, welche durch die natürliche Zauberkraft gewisser Schlangen festgehalten werden. Es war die süßeste Beklemmung. Hast Du mir denn niemals so etwas angespürt? Bei weitem am Häufigsten aber fühlte ich mich ganz ruhig, ganz harmlos und wohl in Deiner Gegenwart. Auch bedaure ich nicht, daß jene seltsame Idiosynkrasie nun längst verschwunden ist.
Wir spielten lange Zeit, wie Kinder im Sonnenschein zusammen, ohne eben einander entschieden zu begehren, ein Sturm mußte kommen, um den Vorhang, der noch über meiner Seele hing, zu zerreißen; ich klammerte mich mit Heftigkeit an Dich und wollte verzweifeln, da die Möglichkeit erschien, Dich zu verlieren. Im nächtlichen Gewitterschein dieser Gefahr stund Dein Bild doppelt herrlich und wunderbar erleuchtet vor meinen Augen. Ich fühlte, ein Gott hatte die Glocke der entscheidenden Stunde angeschlagen, er trieb, er stieß mich vorwärts, das Glück zu ergreifen, das mir und keinem andern bestimmt war. Der Morgen kam, da die liebe Rike mir jene Eröffnung machte - Du standest am Türpfosten der Kammer und blicktest ernst zu uns herüber, als die Schwester mich zum Spaziergang aufforderte. -
Nun die Szene zwischen Dir und mir in der morgendlichen, goldengrünen Gartenlaube! "Mein Herz hat entschieden", sagtest Du endlich. -
Mir stürzte ein Fels von der Brust, und doch welche Angst war in uns Beiden! -
Hinweg, hinweg über diese schwindelnde Kluft! vorwärts bis zu dem Abend, der endlich die Schwester von Tübingen zurückbrachte. Ich sehe sie noch, erschöpft vom Wege, auf ihrem Sessel; endlich fällt ihr Blick auf mich, sie hatte Mitleid mit meinem Zustand; ich eilte ein paar Minuten aus dem Zimmer, um Euch Zeit zu lassen, ihr den günstigen Vorgang in Bernhausen zu kommunizieren. Wie ich wieder eintrat, drückte sie meine Hand mit einem zusagenden Lächeln. Du standest im Hintergrund beim Sofa und ersahst Dir die Gelegenheit, mich, den Übrigen im Rücken, zum ersten Kusse zu Dir herzuziehen. O wie schwankte der Boden selig unter mir! wie zitterten meine Finger in den Deinen! wie freudig staunend blickten wir uns an! Die Rike schien mir wie ein guter Engel; ich hätte vor der Mutter, ich hätte vor Euch Allen auf den Knien liegen mögen. -
Weißt, eine Zeitlang ließen wirs, des eigenen Reizes wegen, noch beim "Sie". In der Kirche von Bernhausen, Arm in Arm den langen Gang auf- und abgehend, machten wir das schöne Du erst aus. - Nun! Du! Du! mein Kind! was sagst Du zu dem Allen? - Ich danke Gott mit brünstiger Seele und schließe nun diese Vergangenheit, die ach! vor einem Jahr erst ein Unding in dem Schoß der Zukunft lag, - mit leichtem, heiterm Herzen ab. Sie deucht mir alt, älter als zehn Jahre wohl und jung doch wie der Tag von gestern. -
Owen, 19. Mai 1830 (S. 425-428)
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(...) Zuerst, mein teures, herrliches Kind, dank ich Dir für die treue Liebe, die Dich noch in Nürtingen jenes Briefchen an mich schreiben hieß: es tat mir unbeschreiblich wohl, es tat mir wohl und weh, so wie mich alles, was mir in diesen Tagen von Dir begegnet, zu weichem, sehnsüchtigem Schmerze stimmt. Ich bemerke mit Freuden, daß wir uns in dem süßen Nachgefühl der verflossenen Tage völlig gleich sind. O wüßtest Du, wie mir zu Mute war, als ich neulich bei meiner Nachhausekunft (11 Uhr nachts) dieses Haus, diese Zimmer wieder betrat! Jede Stelle, jede Wand und jeder Stuhl schien mich zu fragen: Bringst Du sie nicht mehr zurück? wo ist das liebliche Kind, das sich eine Zeit lang in diesen Räumen bewegte und alles ausfüllte mit seinem eigensten Wesen, mit seiner stillen, seligen Gegenwart? (...)
Was mich bei alle dem tröstet, und was ich mir oft, wie oft, in stillem Entzücken wiederhole, das ist: Luise war bei mir! ich lebte mit ihr volle, reiche Tage im schönsten, reinsten Vorgefühle künftiger Zeiten! - Ach, mein Herz, ich kann Dir nicht sagen, was mir die Erinnerung dieser goldenen Woche ist! Ihr Wert steht gar nicht zu berechnen. Ich fühle mich so kräftig, mutig und erquickt, und im tiefsten Grund meiner Seele verbreitet sich eine stille, zufriedene Ruhe. - Deine reichen Tränen vor unserem Abschied waren mir unschätzbar teure und wichtige Zeugen Deiner mächtigen Liebe. Glaube aber, ja glaube nur, daß ihr die meinige um nichts nachsteht! Und so leb wohl, einziges Leben! Ich küsse Dich inbrünstig in die Ferne. Dein Getreuer.

Die zärtlichsten Grüße an Alles, was mich mag. Mährlein läßt bestens grüßen: wir haben wirklich eine sehr fruchtbare, wissenschaftliche Lektüre, die uns eifrig beschäftigt.
Ich lasse den Brief unversiegelt durch meine liebe Mutter an Dich gelangen, damit sie das Nötige daraus für sich entnehme - weil mir die Zeit zu einem zweiten an sie gebricht.
Ich kann diesmal mit meinen Worten kaum zu Ende kommen, so voll ist mir die Seele gegen Dich. Mir fällt unser neulicher Abschied beim Hardter Wäldchen wieder ein. Ich hatte, eh Du von mir gingest, noch so manches für Dich auf der Brust, doch war mir die Kehle wie zugeschnürt, denn der Augenblick drängte und war auch der rechte nicht. (Nun hat der Brief es ausführlich getan.) Als Du Dich schon rückwärts gewandt hattest und die ersten Gebüsche mir Deine Gestalt bereits verbargen, mußte ich unwillkürlich stillstehen und lauschen; mir war, Du würdest noch einmal hervorkommen, wir müßten uns nochmals, von aller Welt ungesehen, um den Hals fallen, und das Letzte, unausgesprochene Wort der Liebe uns aus den Augen nehmen. Aber die Büsche blieben still und taten sich nicht wieder auf. Ich wollte Dir nach, Dich zurückrufen . . . [Lücke] oder vielmehr, ich wußte nicht, was ich wollte. Aber eine unbeschreibliche Wehmut, ein schreckhaft Gefühl von Verlassenheit bemächtigte sich mein in diesem Augenblick. - Ich ging langsam weiter - da kam ich vor den umgehauenen Baumstamm, worauf Du einmal gesessen und ich mich an Deine Knie gelehnt. Diese Erinnerung überwältigte mich ganz, ich hätte niedersinken und laut weinen mögen.
Owen, den 17. Juli 1830 (S. 436-438)
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Liebstes Herz!
Am Samstag, als die Predigt geschrieben und die Feder gewischt war, ich betrachtend unterm Fenster stand und den warmen Strahl der winterlichen Sonne, wie er aus dem zärtlichen Blau des schüchtern geöffneten Himmels drang, begierig in Aug und Seele sog und eine leise Frühlingsahnung (sehr vorzeitig, nicht wahr?) mich anhauchte und mir war, als müßten die Veilchenkeime dort an der gelben Gartenmauer sich schon sehnsüchtig rühren unter ihrer Decke: da kamen Gedanken der Liebe von fernher in seligem Gewühl, jauchzend, wehmütig, und lockten mich fort - errätst Du, wohin?
In der Tag, ich entschloß mich urplötzlich, Dich am Sonntag noch einmal in Nürtingen zu ergreifen und dachte mir alles aufs lieblichste aus. Ich nahm beim Mittagessen die beste Sorte guten Humors zusammen, um mein Vorbringen glücklich einzuleiten, und es fand auch den mindesten Anstand nicht. Da kam Dein Briefchen vom Freitag und blies mein Luftschloß in die Wolken. Denk Dir, mein Herz, wie mir nun war! Ich ließ die Flügel hängen und wollt in Gottes Namen bleiben. Aber der kam, eine langweilige Kaffeevisite nach den Kirchen wartet auf mich, die Ungeduld ließ mich [nicht] ruhn, ich nahm Handschuh und Hut und - eilte dem Tiefenbach zu. Dein unvergleichlich lieber Brief hat mich begleitet. Ich danke Dir aufs innigste für diese kostbaren, lebhaften Zeilen; nie hat mich die Tübinger Luft, seitdem ich sie nicht mehr gefühlt, so heimatlich angeweht, wie diesmal aus der Frische Deiner Worte. Ja, dabei soll es auch in Wahrheit bleiben, daß wir vom Frühling dort ein paar Tage blühen sehen. - (...)
So lebe wohl, mein Kind, und wenn Dirs gestern und heute im Ohre klang oder am Herzen zog, so denke, daß mir Klärchen oder die Mutter von Dir erzählten in diesem Augenblick, und daß ich Dich, ganz wie Du bist, in einem Himmel seliger Gedanken trug! Oft, wenn ich einen Gegenstand ansehe, der kürzlich noch mit Dir in Berührung kam, so zückt ein Blitz von Freude und Wehmut in mir auf, und ich habe zu tun, um die Ruhe in mir herzustellen.
Leb wohl, mein Engel!
Ewig Dein treuster Eduard.
Nürtingen, den 25. Januar 1831 (S.  449-451)
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Hattest Du denn, teuerstes Kind, eine Ahnung von dem, was mich am Abende Deiner Heimfahrt nach Nürtingen im Tiefsten bewegte? Sieh! mir war, als löste sich ein Teil von meiner Seele ab, ich stand wie betäubt in meiner Einsamkeit und hörte nur immer, indes die Dämmerung traurig niedersank, das Rollen der Räder im Ohr, die Dich entführten; ich sah, wie mein liebliches Kind, den Kopf in die Ecke geschmiegt, das graue Schattenspiel der äußeren Welt an sich vorüberfliehen ließ, während in seinem Innern die Gedanken unschlüssig zwischen Lust und Wehmut wechselten.
In unabsehbar langer, magischer Perspektive zog das geliebte Nachtbild vor mir hin, und als ichs endlich aus dem Gesichte verlor, als der letzte Hufschlag verhallt schien: da erschrak ich erst über die düstre Totenstille, die in mir und um mich herrschte. Zu Scharen drang sich mir nun auf, was ich Dir noch zu sagen, worüber Dich noch zu beruhigen gehabt hätte. Ach, und am Ende war es doch nichts anders, als was Du bereits wußtest, was Du Dir selber sagen konntest.
Den andern Tag hatt ich teils in der Kirche, teils am Pulte zu tun. Nie fühlte ich ein lebhafteres Bedürfnis, ein durstigeres Verlangen nach derjenigen Beruhigung, welche mein Beruf unmittelbar mit sich bringt, und doch - nie fühlte ich mich unfähiger, Hand an die Arbeit zu legen und meiner Empfindung irgend eine Form zu geben. Das Evangelium hielt mir seinen ganzen Frieden entgegen und lockte mich tief und tiefer in jene Abgeschiedenheit des Geistes, wo der Engel unserer Kinderjahre uns wieder begegnet und mit uns weint. Aber was ich hier empfand, das gehörte nur mir, gehörte nur Dir: ich konnte die Brücke zur Predigt nicht finden, und was dort lauteres Gold gewesen war, das wurde stumpfes Blei, wenn ich die Feder ansetzte. Eine ruhige Trauer umhüllte mir jeden Gedanken. Jetzt kann ich diesen Zustand nicht anders nennen als eine hypochondrische Exaltation: ich erkannte das gestern schon deutlich. Man hatte mich zu einem jungen Menschen gerufen, ihm das Abendmahl am Krankenbett zu reichen; hier brach mir einigermal das Herz, und ich mußte, während ich die Legende verlas, die Stimme mit Gewalt zusammennehmen und die Tränen verbergen. Zu Hause nun wieder, mitten im verdrießlichen Zusammenleimen meiner Predigt, überrascht mich mit einmal der Gedanken: "Vielleicht bekomm ich noch heute ein Wörtchen von Luise." Und schon diese Hoffnung erheiterte plötzlich meinen ganzen Gesichtskreis. Auch stand es wirklich keine Stunde an, so waren Deine liebevollen Linien vom Samstag früh in meinen Händen, die ich denn nun wohl zehnmal nach einander las und an den Mund drückte.
Daß ich heute, gestern und vorgestern kaum eine Spur meines körperlichen Uebels wahrnahm, macht mich nicht wenig froh und wohlgemut, und indem ich das bisher Geschriebene wieder durchlaufe, gereut michs fast, Dich mit meinen Quälereien unterhalten zu haben. Aber wem soll ich mich eröffnen, wenn ich es gegen Dich nicht darf? Und versprachen wir uns nicht, einander treulich alles mitzuteilen? - Vom kommenden Sommer hoff ich mit Zuversicht das beste. Glaube mir! es wird alles gut gehen. Ich fühle es wohl, daß mir die Unfälle in Scheer auch alles andere in einem zu trüben Lichte malen.
Im Pfarrhause hat man - doch ohne alle Empfindlichkeit - herzlich bedauert, Dich nicht gesehen zu haben. Sie grüßen Dich besonders.
Nun leb wohl! Erhalte mir die Liebe der Deinigen! Ich küsse und umarme Dich
mit treuster Liebe
ewig Dein Eduard
Owen, den 20. Februar 1831 (S. 454-456)
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(...) Mich tröstet Deine Liebe über alles; das glaube nur! O wärest Du zugegen gewesen, als ich Dein Briefchen (vom Donnerstag den 24.) erhielt! Nun wahrlich weiß ich erst, was ich schon längst zu wissen glaubte, warum die Kraft der Liebe eine göttliche heißt, und was der Gipfel ihres Segens ist. So lange Du mir lebst, hab ich die volle Bürgschaft meines Glückes und einer ungeschwächten Tätigkeit, die mich für manches andere entschädigt.(...)
Owen, den 7. März 1831 (S. 458)
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(...) Zuletzt zu lesen
Teuerste, einzige Luise!
Es werden bald zwei Jahre, seitdem ich von Nürtingen aus in einer stillen Nachtstunde jenen Brief an Dich schrieb, worin ich, von der Angst Deines Verlustes gepeinigt, um Deine Liebe, um Deinen Besitz flehte. Zwei Jahre bald, seitdem Du mein Glück entschieden hast, und nichts hat indessen diese Entscheidung mehr wankend gemacht. Aber aufs Neue wird die Wage unruhig, und - wer hätte es glauben sollen? - ich muß es sein, der sie diesmal in Bewegung setzt. Doch nur von Dir, von Deinem reinen Willen hängt es ab, wie sie aufs Neue und dann auf ewig zum Stillstand kommen soll.
Laß Dich diese Worte nicht erschrecken! Was damals das höchste Ziel meiner Wünsche, mein heißestes Gebet gewesen war, das ist es noch in diesem Augenblick. Ich schwöre Dirs im Angesichte Gottes: Du bist die Ruhe meines Lebens; das Schönste, Heiligste, was die Erde für mich hat, bist Du. Die Bande, die mein Leben an das Deine schlingen, haben sich in dieser Zeit eher tausendfach verstärkt, als daß sie auch nur um eine Linie nachgelassen hätten. Ach, das weißt Du wohl, das sagt Dir jeder meiner Briefe, Dir sagts Dein eigenes Herz. Mich faßt ein Schauder bei dem unerhörten Gedanken, daß wir, Luise, wir uns jemals wieder fremd werden könnten. Und wenn ein Gott vom Himmel mirs geweissagt hätte, ich würde, vor wenig Wochen noch, keinen Sinn darin gefunden haben, ich hätt ihm nicht geglaubt, oder dieser Glaube würde mich zur Verzweiflung gebracht haben. In diesen neuesten Tagen des Unglücks und des Jammers vollends glaubt ich mit feurigen Armen des Geistes Dich umklammern zu müssen; denn dies sind die Zeiten, von denen man sagt, daß, um sie zu tragen, man zu zweien sein muß. Bald aber kamen auch Stunden ruhiger Ueberlegung, wo ich mehr Deiner als meiner gedachte. Auf Augenblicke gewann ich die Stimmung, wo der selbstsüchtige Wunsch des einen sich dem Wohl des andern opfern lernt, wo die Liebe Hand in Hand geht mit der Entsagung. O Kind, mißdeute mir nichts! Nur um eine Frage ist es zu tun, die ich an Dein Herz richte; ich habe keine Absicht, und kein Falsch lauert hinter meinen Worten. Der Himmel ist mein Zeuge, daß ich ehrlich, offen und gut mit meiner Luise handle; ich habe im Gebet mein Herz ausgeschüttet vor Ihm und nicht, ohne Ihn zu fragen, den Entschluß zu diesem Briefe gefaßt. Keine Seele, auch meine Mutter nicht, weiß darum. Am allerwenigsten laß Dir den Gedanken beigehen, als leite mich hiebei irgend eine phantastische Grille, ein Kitzel überspannter, selbstgeschaffener Schmerzen, oder meine Eitelkeit wolle sich einen voraussichtlichen Triumph unserer Liebe bereiten, oder ich wolle Dich prüfen. Nichts von dem allen, bei Gott! Ich möchte die Sünde nicht verantworten, so grausam mit dem Herzen eines Engels zu spielen. Nein, sondern meine ernste Liebe zu Dir, mein Gewissen und Verstand verlangen, was ich wahrlich ungern tue.
Owen, den 30. März 1831 (S. 463-465)
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Liebstes, bestes Herz!
Es ist Sonntag halb 4 Uhr: ich hatte noch bis den Augenblick auf einen Besuch meines Bruders Louis gewartet. Die Kirchen waren vorüber, und die Unschlüssigkeit, was ich nun tun und treiben sollte, scheuchte mich ungeduldig von einer Stube in die andere, von einem Fenster zum andern. Die Frau Pfarrerin (gestern kam sie an) saß einsilbig und griff nach einer sonntäglichen Lektüre, Rikele machte Musik, und ich sah bald den Störchen auf'm Kirchdach, bald des Nachbars weißen Tauben, bald den Wolken zu, die ein Gewitter vorbereiteten.
"Wenn ich ein Vöglein wär
Und auch zwei Flüglein hätt"
- das übrige weißt Du - "flög ich zu Dir." Nach dieser Weise gingen meine Gedanken. Ich stellte mir die letzten Stunden unseres Zusammenseins vor, ich ging weiter in die letzten Wochen zurück und sah mich Dir in allen Situationen gegenüber: auf dem schattigen Stege, wo wir den Faust anfingen - an der Ecke des lieben Wäldchens, wo er beendigt wurde - auf dem Rückweg von Nürtingen nach Grötzingen nachts in der herrlichen Mond- und Nebelbeleuchtung - auf der letzten Höhe von Plattenhardt herüber, wo Deine Tränen mir das Herz zerrissen - im Gärtchen zu Grafenberg, die Laube, das Mäuerchen, unsere Scherze im Angesicht von Hohenneuffen - der Besuch auf dem Grötzinger Turm am Markttag - dies und noch manches, ohne strenge Chronologie, wie sich die Blätter meiner Erinnerungen eben zufällig auseinanderschoben, stand wieder frisch und reizend vor mir auf. Wie ist es so schnelle anders geworden! Wie sehr verändert hat sich die Szene! Dort durft ich kaum zwei Schritte gehn, ein Boden, eine Treppe war zwischen uns, ich war in jedem Augenblick gewiß, Dich irgendwo zu finden, sei es am Herde in der Küche oder beim Bügelbrett im Öhrn, wo denn trotz Rauch und Dampf ein Paar rote Lippen sich jederzeit gefällig zeigten. Ach, Schätzchen, und nun wär ich zufrieden, nur zu wissen, auf welchem Fleck des Hauses oder Felds Du im Moment, da ich dies schreibe, den lieben Fuß aufsetzest, was Deine Hand berührt, worauf Dein Blick ausruht! Das könnte mich glückselig machen. Vor wenig Tagen noch ein Fürst im Ueberflusse Deiner Liebe: jetzt nasch ich an jedem verlorenen Bröselein und fühle wohl, daß es nicht sättigt.
Wenn ich ein Vögelein wär! - So verließ ich vorhin das Fenster und meine Pfarrleute und lief den Grillen nach auf meiner Stube. Ein prächtiger Akkord des schnell entwickelten Gewitters gab meinen Träumereien plötzlich eine kräftigere und freudigere Gestalt. Es war, als zerrisse ein Flor in meinem Innern: ich fühlte mich frei und erhoben, ja ich empfand mich Dir näher, und als die Schläge des Donners so heftig wurden, daß die Gegend meilenweit davon erschüttert schien, konnt ich mir einen Augenblick einbilden, derselbe Donner, den ich eben höre, müßte auch zu Deinem Ohre dringen, ja vielleicht schaudern unsre Nerven in einer und der nämlichen Sekunde zusammen und unsre Seelen berühren sich im Nun des Blitzes.
Jetzt goß der Regen in nasser platter Prosa nieder. Ich sah mich nach einem Zeitvertreib um, und die Zeichnung mit den drei Kindern fiel mir in die Hände: ich sah die Gestalten wehmütig an, indes ich das Bleistift schärfte. - O, dacht ich, wie ist hier doch jeder Strich Verschwendung! Die tausend eifrigen und liebevollen Blicke, die ich, fast ohne aufzusehn, an diese Linien verlor - jeder einzelne hätte können ebenso gut auf der Gestalt der Liebsten ruhn, die nur drei Schritte von mir saß! - Und doch, das ist eigentlich eine ungerechte Selbstanklage: fühlt ich denn nicht, indes die Augen Dir untreu waren, den ganzen Zauber Deiner Nähe mir ruhig und befriedigt am Herzen hin und wieder spielen. Und ging Dirs nicht ebenso, derweil Deine Finger mit der Nadel verkehrten? O süße Viertelstunden, wo Liebende ein ganz erstaunlich großes Opfer zu bringen glauben, wenn Sie einmal freiwillig es über sich vermögen, zwischen einerlei Wänden (und ohne Zeugen an verschiedenen Tischen sitzend) weder mit den Händen noch den Lippen noch den Augen Notiz voneinander zu nehmen! Wers recht versteht, weiß freilich wohl, daß das eigentlich nur eine raffiniertere Art, sich liebzuhaben, ist. Aber sieben Stunden auseinander - ich gestehe Dir: dieses Raffinement ist doch etwas zu stark.
Dort auf dem Stuhl an meinem Bette liegt das gelbe Tüchlein, das Du hier an dem Abend, als ich von Leonberg zurückgefahren kam, gegen Zahnweh umgebunden hattest; ich hab es indessen schon mehr als einmal voll herzlicher Sehnsucht nach Dir an mein Gesicht fest angedrückt, dann es wieder sachte bei Seite gelegt und nicht gewagt, es umzubinden, gewiß nur, weil ich mir einbilde, es wäre dann nicht mehr so frisch und voll von Dir, und ich dürfe die ursprünglichen Falten, die es durch Dich erhielt, nicht verändern. Hoffentlich wirst Du mir diese rührenden Armseligkeiten eines liebeheimwehkranken Herzens nicht verlachen. (...)
Eltingen, 7. August 1831 (S. 478-479)
 
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(...) Frühling und Liebe, das ist doch gewißlich wahr, stehn in einer Wahlverwandschaft, die ich schon wieder durch alle Nerven spüre. Warum warst Du mein erster Gedanke, als gestern ein Kind uns einen Strauß frischer Schneeglöckchen brachte? - Sie stehen hier bei meinem Schreibzeug und ich pflücke Dir eins, eh ich den Brief nachher zusammenlege; eigentlich kommt es mir vor, als wollten sie alle zu Dir hin und seien nur für Dich gewachsen. Das Mädchen fand sie unter den Felsen des Breitensteins. Wär es nicht möglich, daß eine süße magische Erschütterung den Fels durchzuckt hätte, als Du neulich Deinen Fuß dort aufsetztest, und daß diese Knospen in jenem Augenblick zum ersten Mal sich öffneten? (...)
Ochsenwang, den 25. März 1832 (S. 495)
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Seele!
Der zweite April hat mir Rosen getragen, d. h. auf gut deutsch: vor sechs Tagen habe ich ein liebes, liebes Briefchen von meiner Teuersten auf dem bewußten rötlichen Papier samt einer kostbaren Beilage auf weißen erhalten. Ich schreibe Gegenwärtiges auch auf rotem: doch ist es nur der Schein durch den bekannten Fenstervorhang, auf den die Morgensonne fällt, und der alle Wände und Flächen mit dieser sanften Glut beleuchtet. Nie seh ich diesen angenehmen Schimmer mein Stübchen besuchen, ohne zu denken, daß er vor noch nicht langer Zeit auf Deiner Stirn, auf Deinen lieben Fingern lag, und so berausch ich mich wohl ganze Viertelstunden in dieser purpurischen Nacht der süßen Gedanken, der lieblichsten, zärtesten Wehmut. Ich sage "Nacht" und "Purpur", denn jene lichte Dämmerung verdichtet sich zuletzt auch wohl, je tiefer die Gedanken gehn, bis zur dunkel-seligen Selbstvergessenheit, wo die äußern Sinne sich zu schließen scheinen, alles, was uns umgibt, verschwindet und versinkt und die innerste Seele die Wimpern langsam erhebt und wir, nicht mehr uns selbst, sondern den allgemeinsten Geist der Liebe, mit dem wir schwimmen, wie im Element, empfinden. (...)
Ochsenwang, den 8. April 1832 (S. 497)
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(...) Blick her! neig mir Dein Herz entgegen! leg in Gedanken Deine Hand hieher, wo sie oft geruht hat! im vollesten, erschöpfenden Gefühl, daß wir uns ganz und ewig angehören, daß keines Menschen Seele auf weiter Welt sich inniger, glücklicher an Dich anschließen könne als ich, Dein Eduard! Wärs möglich, daß ich diese Worte ins hellste Morgenrot tauchte, damit sie, bis wir für immer nebeneinander und umeinander bleiben, mit unauslöschlichen Zügen vor Deiner Seele stünden! - - - (...)
Ochselwang, den 24. Januar 1833 (S. 515)
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Aus: Eduard Mörike Gesammelte Werke
Sonderausgabe in einem Band
Müller und Kiepenheuer Verlag o. J. [1975]
Herausgegeben von Georg Schwarz

 


 

 


 

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