George Frederic Watts
(1817-1904)
Wählerisch |
Adolf Glaser
(1829-1916)
König Mai
Als Bote eilt der März herbei
Und bringt der Erde frohe Kunde,
Daß sie erwählt vom Bräut'gam sei
Als Braut zu süßem Liebesbunde
Und laut erklärt er in der Runde:
Der Bräutigam, das ist der Mai,
Der schöne Mai.
Da er die Kunde ihr gebracht,
Der Erde Freudenthränen rinnen
Auf ihre ernste Jungfrautracht
Von glattgelegtem weißem Linnen;
Sie weiß nicht, was sie soll beginnen,
Denn wohlbekannt ist ihr der Mai,
Der schöne Mai.
Bald ist sie tiefbewegt, bald still,
Weiß nicht, was sie soll thun und lassen,
So wechselnd endet der April.
Nun muß sie in Geduld sich fassen,
Denn zwischen Lieb' und zwischen Hassen
Träumt ahnend doch sie nur vom Mai,
Vom schönen Mai.
Der aber kommt mit einem Mal
Ganz unerwartet angezogen
Und über'n Berg und durch das Thal
Ist sein Gefolge mitgeflogen:
Ein Zirpen, Girren, Schwirren, Wogen,
Ein Jauchzen kündigt an den Mai,
Den schönen Mai.
Wie wird der Braut so wohl und bang,
Sie fühlt ihr Herz an seinem Hangen,
Sein Hauch ist Duft, sein Wort Gesang,
Es glüh'n von Rosen seine Wangen,
Sie ruht von seinem Arm umfangen
Und jauchzt: O lieber, lieber Mai,
O schöner Mai!
Aus: Deutsche Lyriker seit 1850
Mit einer litterar-historischen Einleitung
und biographisch-kritischen Notizen
Herausgegeben von Dr. Emil Kneschke
Siebente Auflage Leipzig Verlag von Th. Knaur 1887
(S. 248-249)
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Bitte
Was soll des Lebens heller Tagesschein,
Was jede Ehre, die die Welt mir spendet,
Was kann mir Ruhm, was kann mir Freude sein,
So lang' die Seele, die mir liebe, nicht mein?
So lang Dein Auge nicht sich zu mir wendet?
Willst Du beenden, was ich je begann,
Willst Du belohnen, was ich je geendet,
Willst Du erklären, was ich dacht' und sann,
Mir wertvoll machen, was ich je gewann;
So liebe mich - und alles ist vollendet!
Aus: Deutsche Lyriker seit 1850
Mit einer litterar-historischen Einleitung
und biographisch-kritischen Notizen
Herausgegeben von Dr. Emil Kneschke
Siebente Auflage Leipzig Verlag von Th. Knaur 1887
(S. 249)
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Reue
So nahte sich des Scheidens düstre Nacht!
Du weintest still - ich hatte keine Thräne,
Stumm seufzend hab' ich schmerzvoll sie durchwacht;
Dann kam der Tag. Wir schieden leis' und sacht.
So ziehn auf dunkler Flut die stillen Schwäne.
O, daß sie nahte, jene düstre Nacht!
Mir kann Entfernung Ruhe nimmer bringen,
Nur neue Schmerzen hat sie mir gebracht.
Wie oft hab' seufzend ich seitdem gedacht:
Ach! daß wir damals von einander gingen!
Aus: Von allen Zweigen Neuere lyrische Dichtungen
ausgewählt von Sophie Verena
Dritte Auflage Berlin Verlag von H. W. Müller 1891 (S. 109)
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