Theo Van Rysselberghe
(1862-1926)
Madame Theo Van Rysselberghe im Garten |
Wilhelm Toporoff
(1817-1873)
Das Lied
Du fragst, wie mir das Lied gelungen ist,
Den Tiefen meiner Brust entsprungen ist? -
Wer nur begeistert von des Goldes Glanz
Und zum Gesange nur gedungen ist;
Wer seinem Herrn mit Sang die Zeit vertreibt,
Weil er als Knecht dazu gezwungen ist:
Deß Lied erstirbt sogleich in der Geburt,
Weil's nicht von Lebensgluth durchdrungen ist. -
Nur wer vom Saft der Trauben tief erglüht
Und von der Liebe fest umschlungen ist;
Nur wessen heißentbrannter Busen voll
Von wonnigen Erinnerungen ist;
Nur wem das Herz im trunknen Busen wogt
Noch eh' in Worten es gesungen ist;
Nur wen es tief im Innersten durchbebt,
Noch eh' in Tönen es erklungen ist;
Nur wessen Denken, wessen Fühlen ganz
Dem Lied gleich, dem ewig jungen ist: -
Nur der singt frisch und frei wie Hafis sang
Des Lied und Lob auf allen Zungen ist!
(S. 319)
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Alt und Jung zugleich
Das Alter liebt den süßen Saft
Der ausgepreßten Reben:
Das giebt ihm wieder warme Kraft
Und würzt sein flaues Leben.
Die Jugend liebt an ihrer Brust
Ein Mädchen heiß zu drücken;
Nur das ist höchste Lust,
Ihr seligstes Entzücken.
Ich bin nicht kalt und bin nicht heiß
In meinen besten Tagen;
Ich bin ein Mann, ein junger Greis,
Und das hat viel zu sagen.
Um jung und alt zugleich zu sein
In beiderlei Genüssen,
Trink ich mir bald mein Gläschen Wein,
Bald lab' ich mich an Küssen.
(S. 320)
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Aus: Literarisches Taschenbuch der Deutschen in Rußland
Herausgegeben von Jegor von Sivers
Riga Verlag von N. Kymmel 1858
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