Aus dem Mesnewi
Eingangsgedicht
Hör' auf der Flöte Rohr1, was es verkündet,
Hör', wie es klagt von Sehnsuchtsschmerz entzündet:
"Als man mich abschnitt am beschilften See,
Da weinte alle Welt bei meinem Weh.
Ich such' ein sehnend Herz, in dessen Wunde
Ich giesse meines Trennungs-Leides Kunde.
Sehnt doch nach des Zusammenweilens Glück
Der Heimatferne allzeit sich zurück.
Klagend durchzog ich drum die weite Welt,
Und Schlechten bald, bald Guten beigesellt,
Galt Jedem ich als Freund und als Gefährte,
- Und Keiner fragte, was mein Herz beschwerte.
Und doch – so fern ists meiner Klage nicht,
Den Sinnen nur fehlt der Erkenntnis Licht.
So sind auch Seel' und Leib einander klar,
Doch welchem Aug' stellt' je ein Geist sich dar?"
Kein Hauch, nein Feuer sich dem Rohr entwindet.
Verderben dem, den diese Gluth nicht zündet!
Der Liebe Gluth ist's, die im Rohre2 saust,
Der Liebe Seufzen, das im Wein aufbraust.
Getrennter Liebenden Gefährtin sie,
Zerreisst das Innerste die Melodie.
Als Gift, als Gegengift stets unvergleichlich,
An Mitgefühl und Sehnsucht unerreichlich,
Giebt sie vom Pfad im Blute3 uns Bericht,
Von Medschnuns4 Liebe singt sie manch Gedicht.
Vertraut mit diesem Sinn ist nur der Thor5,
Gleich wie der Zunge Kundsmann nur das Ohr.
In Leid sind unsre Tage hingeflogen,
Und mit den Tagen Plagen mitgezogen!
Und ziehn die Tage, lass sie ziehn in Ruh,
O du der Reinen Reinster, daure du!6
Den Fisch nur sättigt nie die Fluth, doch lang
Sind des Darbenden Tage, lang und bang.7
Aber mein Wort sei kurz; versteht doch nicht
Der Rohe was der Vielgeprüfte spricht.
Sei frei, mein Knabe8, und durchbrich die Schranke,
Zu lang war Gold und Silber dein Gedanke!
Denn gössest du das Meer in einen Krug, -
Was fasst er? Kaum für einen Tag genug.
Voll wird des Geiz'gen Aug' nie; doch verleiht
Der Muschel Perlen die Genügsamkeit.9
Wem immer Liebe10 riss das Kleid entzwei,
Der ist von Geiz und aller Schande frei.
O Liebe, du mein süsses Weh, Heil dir,
Meiner Gebresten Balsam, für und für!
Du heilst von Scham und Hochmuth11 mein Gemüthe,
O du der alten Weisen schönste Blüthe!12
Den Leib von Staub13 liess Lieb' gen Himmel schweben,
Der Berg14 zerbarst, den Liebe macht' erbeben;
O Freund, Horeb ist worden liebetrunken,
Und Moses ist ohnmächtig hingesunken! -
Wär' mir der, den ich liebe, Mund an Mund
Vereint, - o Manches wollt' ich thun auch kund.
Doch stumm ist selbst wer hundert Weisen kennt,
Ist er von dem, der ihn versteht, getrennt.
Wenn Lenz entflohn, wenn hin die Zeit der Rosen,
Hörst du nicht mehr die Nachtigallen kosen.15
Zwei Wesen Lieb' zu einem Ding verwebt,
Todt ist was liebt, nur das Geliebte lebt.16
Dem Vogel, der die Fittige verloren,
Gleicht der, dem Liebe fremd ist, weh dem Thoren!
Wie könnt' ich vor- und rückwärts für mich sorgen,
Wär' mir des Freund17 allstrahlend Licht verborgen? -
Diess Wort, die Lieb' sprichts, die dem Spiegel gleicht;
Nützt wohl ein Spiegel, der von Fehlern schweigt?
Mit Rost bedeckt ein Spiegel ist die Seele,
Der nicht die Liebe kündet ihrer Fehle!
Anmerkungen:
1 Ueber die Entstehung dieses Einganges erzählen die Mewlewi
Folgendes:
Hussam-ed-din-Tschelebi, der selbst als mystischer Dichter berühmte,
geistreiche Schüler und Vertraute des Scheich, hatte diesen wiederholt
gebeten, die Lehren, die er vortrage, schriftlich niederzulegen. Als
er eines Tages lebhaft in ihn drang, antwortete Mewlana, er habe
bereits auf göttliche Eingebung seinem Wunsche gewillfahrt, und zog
aus seinem Turban ein Stück Papier hervor, auf dem sich die ersten 18
Doppelverse geschrieben fanden. Diese stehen ihres dunklen Ursprungs
wegen bei den Mewlewi im höchsten Ansehn und sind der Gegenstand
weitläufiger Commentare geworden, in denen ihre mystische Bedeutung
wahrscheinlich weit über die Grenzen der Absicht ihres Urhebers hinaus
ausgedehnt worden ist.
Die Flöte ist eins der vornehmlichsten Instrumente der schmelzenden,
melancholischen Musik, welche die Derwische zu ihren mystischen Reigen
begeistert. Alle ihre Laute sind Klage, - Klage, wie es heisst, über
ihre Trennung von dem rohrbewachsenen Weiher; und so ist das Bild des
erleuchteten Menschen, dessen Leben auch nur eine Klage seyn soll,
eine Klage über seine Trennung von der Gottheit, über die Sonderung
des Theils von dem Ganzen, nach dem er sich zurücksehnt, bis die als
Krankheit und Sünde geltende Individualität vernichtet und der reine
Geist in die grosse Einheit resorbirt worden ist.
2 D.i. in der Flöte
3 Der Pfad im Blut ist die Liebe. So ruft Hafiz seinem Geliebten in
einem Gazel zu:
"Halt fern vom Staub und Blut dein Gewand, wenn du an mir
vorübergehst;
denn auf diesem Wege (den ich gehe, d.h. dem der Liebe) sind der
Erschlagenen viel, deine Opfer!" -
4 Die Liebe des Kais mit dem Beinamen Medschnun, der Rasende, zur
Leila ist eine arabische Wüstensage, welche von den romantischen und
mystischen Dichtern des Orients unendlich viel ausgebeutet wordn ist.
Medschnuns Leidenschaft wird von der Leila getheilt, ist aber doch
unglücklich, indem der Vater des Mädchens sich weigert, sie dem aus
Liebe wahnsinnig gewordenen Jünglinge zu geben. Medschnun lebt nun
unter den Thieren des Feldes, und bezaubert diese so wie die Menschen,
die ihm nahe kommen, durch seine beredten Klagen, bis ihn endlich das
Glück zu lächeln scheint und ihn mit seiner Geliebten vereinigt. Aber
ein neues Hinderniss, schrecklicher als alle früheren, vereitelt auf's
neue seine Hoffnungen: Leila stirbt in dem Augenblicke, wo er sie sein
nennen konnte, und bald darauf haucht auch Medschnun auf ihrem Grabe
seine Seele aus. Dies ist der Faden der mit vielen reizenden Episoden
ausgeschmückten Erzählung von einer Liebe, die den Orientalen als der
wahre Ausdruck der innigsten Leidenschaft gilt.
5 D.h. der den Sorgen des gewöhnlichen Menschen überhobene und deshalb
diesen als Thor geltende.
6 Dieser Ausruf ist an den Scheich Schems-ed-din Tebrisi gerichtet,
den Lehrer Mewlanas. "Mögest du dauern", "mögest du nie fehlen", sind
gewöhnliche Begrüssungsformeln bei den Orientalen.
7 Dieser Vers ist mystisch. Die formlose, aller Gestaltung
widerstrebende, aber in sich klare Fluth ist die Gottbegeisterung, der
gegenüber die Menschen in drei Classen zerfallen: Einige leben ganz in
ihr, wie der Fisch im Meere, und werden ihrer nie satt; diese immer
nach der Wahrheit Dürstenden sind die vollkommensten Menschen. Andere
begnügen sich, jene Fluth nur gekostet zu haben, dies ist die zweite
Classe; die dritte und niedrigste endlich hat gar keinen Antheil an
der wahren Erkenntnis deren Tag verstreicht langsam in irdischen
Besorgnissen und Aengsten.
8 Der hier Angeredete ist nach Ansicht der Mewlewi-Derwische
Hussum-ed-din, der nach der Mitteilung der ersten 18 Verse um weitere
Aufschlüsse bat.
9 Nach der Ansicht, dass es nur dann der Muschel gelinge, Perlen zu
erzeugen, wenn sie sich vor der Fülle des Meerwassers verschliesse und
nur einen Regentropfen in sich aufnehme.
10 Es ist hier von der Liebe des Geschöpfes zu dem Schöpfer die Rede.
Das Kleid, welches dieselbe zerreissen soll, ist die Selbstsucht, der
Eigenwille, durch den sich die Individualität kund giebt. Die
mystischen Dichter bedienen sich zur Bezeichnung der göttlichen Liebe
stets der Ausdrücke, welche eigentlich der irdischen Liebe und
Freundschaft gelten.
11 Den beiden Regungen der Selbstsucht; sie waren es, welche den Iblis
zu der ihm selbst verderblichen Widerspenstigkeit vermochten, als Gott
ihm befohlen, sich vor dem Menschen niederzuwerfen.
12 Im Originale: "Du unser Plato und Galen!" Die Orientalen theilen
die Philosophen des Alterthums in zwei Klasse, die Ischrakijje und die
Messchaijje. Erstere schöpften ihre Weisheit aus der Abstraction, der
Reinigung des innern und der Ascese des äussern Menschen; letzteren
gelang dies nicht, weshalb sie sich auf Experimentiren und Studium
verlegten. Der Anführer der Ischrakije ist Plato (Iflatun) und der der
Messchaijje Galen (Dschalinos). Der Vergleich soll sagen, dass die
Liebe nicht weniger zur wahren Erkenntnis führt als die gefeiertsten
Lehrer der Weltweisheit.
13 Die göttliche Liebe war am stärksten bei Idris und Issa (Henoch und
Jesus), deren irdische Leiber sie zum Himmel hinauftrug.
14 Die Geschichte der Enthüllung Gottes vor Moses erzählt der Koran
(Sure 7, 139) folgendermassen: Und als Moses herankam zu der Zeit,
die wir (der Redende ist Gott) ihm bestimmt, und sein Herr (Gott)
mit ihm redete, sprach er: Mein Herr, zeige dich mir, dass ich dich
schaue! Er (Gott) sprach: du wirst mich nicht sehen, aber
schaue auf den Berg, und wenn er festbleibt auf seiner Stelle, so
wirst du mich sehen. Und da Gott dem Berge sich enthüllte, machte er
ihn zu Staub, und Moses fiel nieder in Ohnmacht. Vgl. II. Mos. 33,
18ff.
Die mystischen Dichter geben der Stelle eine ihren Vorstellungen
entsprechende Deutung. Moses sehnt sich, Gottes Angesicht zu sehn, wie
man sich nach dem Anblick des Gegenstandes seiner Liebe sehnt, und der
Berg – hier der Tor oder Horeb, nach einigen Auslegern der Zebir –
erbebt liebeberauscht, da sich Gott vor ihm enthüllt, bis er in Stücke
fällt. Die letzten Worte der Koranstelle sind dem persischen Text
wörtlich eingeführt.
15 Anspielung auf die schöne Dichtung von der Liebe der Nachtigall zur
Rose.
16 Indem nämlich die Liebe des Liebenden eigenen Willen tödtet und in
dem des Geliebten aufgehen lässt.
17 Gottes.
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Liebe verrathen schwere Seufzer ja; -
Kein Leiden kömmt der Liebe Leiden nah,
Kein andrer Kranker gleicht dem Liebekranken:
Auf zu Gott weist die Liebe den Gedanken;
Ob sie vergänglich; ob sie unvergänglich,1
Liebe macht stets den Sinn für Gott empfänglich.
Was über Lieb' ich je gesagt, ergründet,
Des schäm' ich mich, sobald mich Lieb' entzündet.
Wohl ist das Wort der Allesoffenbarer,
Doch wortlos ist die Liebe nur noch klarer.2
Des Schicksals Schreibrohr3 zog unaufgehalten,
Als es zur Liebe kam, da war's zerspalten.
Verstand ist hier ein Esel im Morast -
Der Liebe Wesen nur die Lieb' erfasst.4
Der Sonne Wesen thut die Sonne dar,
Der schau' sie an, dem nicht ihr Wesen klar.5
Auch giebt der Schatten wohl von ihr Bericht, -
Und so füllt Liebe stets den Geist mit Licht.6
Kein Wesen gleicht der Sonn' an Majestät, -
Liebe, der Seele Sonn', nie untergeht.
Einzig die Sonn' die Körperwelt bestrahlt,
Jedoch ihr Abbild wohl ein Künstler malt;
Der Seele Sonn' ist ohne äussre Spur,
Ihr gleicht im Geist Nichts, Nichts in der Natur.
Hat Vorstellung die Lieb' je aufzufassen
Vermocht, der Lieb' ein Bildniss anzupassen?
Da diese Red' der Glaubenssonne7 denkt,
Des vierten Himmels8 Sonn' ihr Antlitz senkt.
Und da Tebrisi's Nam' hier vorgekommen,
Sollt' ich hier reden von dem Reinen, Frommen.
Vom Duft des Kleides Josephs angeweht9,
Ergreift auch mein Gewand10 Hussam und fleht:
"Bei dieser Freundschaft, die uns Jahre eint,
Rede mir von dem vielgepries'nen Freund,
O rede, dass das ganze Weltall lache,
Und Aug' und Geist mir wachs' ins Hundertfache!"
- ""Dring nicht in mich! die Kräfte mir versagen,
Es stockt mein Geist; ich kann sein Lob nicht wagen.
Zum Reden möchst du wohl den Kranken bringen,
Doch wohlzureden würd' ihm nie gelingen.
In meinen Adern glüht ein wild Entzücken,
Kann mir des Freund, des Einz'gen, Lob da glücken?
Lass ab! Von meiner Sehnsucht, meinem Leid,
Red' ich zu dir in einer andern Zeit.""
Er sprach: "Gieb was mein lechzend Herz begehrt,
Und schnell! die Zeit ist wie ein scharfes Schwert.
Als Sofi nist du Sohn der Zeit geworden,
Aufschub ist nicht erlaubt in unserm Orden.
Bist du vom Orden nicht der Selbstentsagung?
Zum Nichtseyn wird das Seyn durch die Vertagung."
Ich sprach: ""Freund, auf mein Gleichnis sollst du hören,
Denn es umhüllt des Scheichs geheime Lehren,
Gleichwie wahrheitumschleiernd ein Gedicht
Von den Geheimnissen der Liebe spricht.""
Er sprach: "Gieb mir enthüllt und rein die Wahrheit,
Versag' mir, Meister, nicht die ganze Klarheit!
Gieb sie mir nackt und lüfte ganz den Schleier, -
Im Kleid begeh' ich nicht der Brautnacht Feier!"
Ich sprach: ""Wenn nackt dein Aug' sie würde sehn,
Du würdest, Freund, zu Nichts vor ihr vergehn,
Unmässig ist der Wunsch, den du gehegt, -
Den Bergkoloss der Strohhalm nimmer trägt!
Wenn nicht die Sonne, die das All erhellt,
Fern bleibt, so lodert auf die ganze Welt.
Zu Zwist und Kampf und Mord führt dein Begehr,
Drum rede von Tebrisi mir nicht mehr!""
Anmerkungen:
1 D.h. ob sie sich an etwas Vergängliches, Irdisches, oder an den
Einen, Unvergänglichen hängt. Der Dichter spielt damit auf das
arabische Sprichwort an: das Bild ist die Brücke zum Wesen.
Aehnlich sagt Dschami in dem Gedichte Jussuf und Suleicha: "Wende von
der Liebe das Antlitz nicht ab, auch wenn es die bildliche (aussergötliche)
ist; denn diese leitet zur wesentlichen hin."
2 Die stumme, sich nicht auszusprechen wagende Liebe gilt den
persischen Dichtern für die innigste. Der so viel von ihrer
Leidenschaft redenden Nachtigall ruft Sadi im Rosengarten zu: "O
Morgenvogel, die Liebe lerne von der Lichtmücke, welche verbrennt und
im Sterben keinen Laut von sich giebt!" Die Lichtmücke, welche ohne
Hoffnung auf Erhörung das Kerzenlicht stumm umschwärmt und endlich in
ihm den Tod sucht, ist das sinnliche Bild dieser Liebe, in Beziehung
auf welche Sadi an einer andern Stelle sagt:
"Die Liebenden sind todt in dem Geliebten,
Und von den Todten hörst du keinen Laut."
3 Die Muhammedaner denken sich alles menschliche Geschick in der
anfangslosen Ewigkeit von Gott auf eine Tafel (lewh) aufgezeichnet,
über welcher sie das Schreibrohr, den Kalem, noch fortwährend arbeiten
lassen. Dies Rohr, welches alles Andere zu schreiben vermochte,
zersplitterte von selbst, als es zur Liebe kam, aus Entsetzen vor
einem so erhabenen Gegenstande. Einer von dem Commentator zu dieser
Stelle angeführten arabischen Mythe zufolge war der Kalem das Erste,
was Gott erschuf. "Demselben", heisst es, "befahl Gott: Schreib! und
er schrieb die Vergangenheit und die Zukunft. Dann sprach Gott:
Schreib, es ist kein Gott als Gott; und er schrieb es. Dann
sprach Gott: Schreib, Muhammad ist der Gesandte Gottes; aber er
vermochte es nicht zu schreiben. – Muhammad gilt nämlich als Träger
der göttlichen Liebe. Uebertreibungen der Art fallen bei den
orientalischen Dichtern nicht auf, wo Hafiz die Zohre (Venus) als
Lautenschlägerin des Himmels seine eigenen Ghazelen singen und den
ernsten Messias zu dieser Musik einen Reigen aufführen lassen darf. –
Zu dem Gedanken selbst bemerke ich noch, dass das Rohr, dessen sich
die Orientalen zum Schreiben bedienen, spröde genug ist, um bei einer
auf die schreibende Hand einwirkenden geistigen Bewegung leicht zu
zersplittern.
4 D.h. der Verstand vermag die Liebe nicht zu begreifen oder zu
erklären; denn um ihrer bewusst zu werden, muss man sie fühlen.
Denselben Gedanken drückt ein türkischer Dichter der neusten Zeit,
Fehim Efendi, folgendermassen aus:
"Im Thal der Liebe geht der Verstand irre, und wenn er auch in der
Philosophie ein Ptolemäus (Batlamios) ist."'
5 Die Zusammenstellung von Liebe und Sonne liegt dem Perser um soviel
näher, da in seiner Sprache Ein Wort – mihr – beide Begriffe
vereinigt. So heisst es auch in Jussuf und Suleicha (Rosenzweig, S.
80):
"Als sie von Joseph hörte und seiner Schönheit, da entbrannte auf dem
Monde ihres Antlitzes die Sonne (Liebe)".
Unser Dichter vermeidet hier dieses Wort und wählt statt seiner in
beiden Bedeutungen vorzugsweise die arabische Benennung der Sonne,
Schems, um damit auf das bald folgende Lob seines Lehrers und
Freundes, des Scheich Tebrisi, mit dem Beinamen Schem-ed-din
(Glaubenssonne) vorzubereiten.
6 Wie der Schatten die Sonne ahnen lässt, so das den Geist erfüllende
Licht der Liebe.
7 Des Scheich Tebrisi, der diesen Beinamen führte.
8 Bekanntlich denken sich die Muhammedaner sieben Himmel über
einander. Der vierte derselben ist die Sphäre unserer Sonne.
9 Dies ist bildliche Bezeichnung der Vorahnung eines hohen Genusses.
Bei der Rückkehr der Söhne Jakobs von ihrer letzten Reise nach
Aegypten lässt der Koran den Joseph zu seinen Brüdern, denen er sich
endlich zu erkennen gegeben, also sprechen (Sure 12, 93): "Ziehet fort
mit diesem meinem Hemde und werft es auf meines Vaters Antlitz, auf
dass er sehend werde, und kommt zu mir mit den Eurigen allesammt."
Dann heisst es weiter: Als aber die Karawane abgezogen war (aus
Aegypten), sprach ihr (in Kanaan zurückgebliebener, eblindeter) Vater:
"Wahrlich, ich empfinde den Duft Josephs, - wenn ihr mich nur nicht
kindisch nenntet." Sie sprachen: "Bei Gott, da bist du wieder in
deinem alten Irrwahn." – Auch Sadi hat diese Koranstelle zu einem
Gedicht im Rosengarten benutzt, wo er diesen Zustand des Schauens
dem der menschlichen Schwäche gegenüberstellt, nach welcher Jakob das
in seiner Nähe verübte Verbrechen seiner Söhne nicht bemerkte:
"Man sprach zu dem, der seinen Sohn verloren:
Du edlem Stamm entsprossner weiser Greis!
Des Hemdes Duft empfandst du aus Aegypten, -
Sahst du in Kanaans Grube Joseph nicht?" -
10 "Das Gewand erfassen" ist der Gestus des Flehens.
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Aus:
Mesnewi oder Doppelverse des Scheich Mewlana Dschelal-ed-din Rumi
Aus dem Persischen übertragen von Georg Rosen
Leipzig 1849 (Verlag Fr. Chr. Wilh. Vogel)
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