Das Sonntagsgedicht

Geistliche Gedichte deutscher Dichterinnen
(vom 18. April 2010)

(c) Gerd Altmann Pixelio.de



Anna Schlatter
(1773-1826)



Morgenandacht


Erwach' am neuen Morgen,
Mein Herz, zu Gottes Preis;
In Ruhe, ohne Sorgen
Schlief ich auf Dein Geheiß;
Und alle meine Lieben
Sind froh mit mir erwacht:
Dies sei Dir zugeschrieben,
Du Hüter in der Nacht.

Von Dir, aus Deiner Quelle,
Fließt jedes Gut mir zu;
Drum ruft die frohe Seele:
Wie gut, o Herr, bist Du!
Du segnest Deine Kinder
Auf dieser Erde gern,
Und bleibst dem schwächsten Sünder
Mit Gnade niemals fern.

Voll frohen Glaubens trete
Ich als Dein Kind vor Dich,
Als säh' ich Dich, und bete:
Erhör' durch Christum mich!
Dir möcht' ich heut' gefallen,
In jedem Augenblick,
Vor Dir unschuldig wallen;
Verleih' mir, Herr, dies Glück!

In Deinen treuen Händen
Liegt dieses Tages Loos.
Du wirst mir Freuden senden,
Du bist so gut und groß!
Und hast Du eine Plage
Mir heute auserseh'n,
So lehr' mich, ohne Klage
Auch finst're Wege geh'n.

Für Nichts hab' ich zu sorgen
Als nur dafür allein,
Dir, Herr, mit jedem Morgen
Auf's Neu' mein Herz zu weih'n.
Wer nur nach Deinem Worte
Verharret im Gebet,
Dabei an jedem Orte
Stets auf der Wache steht –

Bei dem wird das Geschäfte
Der Heiligung vollbracht,
Weil Christus seine Kräfte
Zum Streite tüchtig macht.
Hilf mir, o Herr, besiegen
Die Sünde, Fleisch und Welt;
Nie werd' ich unterliegen,
Wenn Deine Hand mich hält.

O Herr, nach Deinem Reiche
Sehnt jeden Morgen sich
Mein Herz; daß ich's erreiche,
Dazu bereite mich!
Schenk' heut' den Geist des Lebens
Als Pfand der Kindschaft mir;
Du wirst nicht müd' des Gebens,
Drum sag' ich Alles Dir.

Was nur mein Herz begehret,
Der kleinste Wunsch sogar,
Wird mir so oft gewähret
Von Dir, der ist und war.
Du liesest im Gemüthe,
Was nie ein Auge sah,
Und Deine große Güte
Ruft ihm – und es steht da!

Ich wünsche nichts zu haben,
Als was zu Dir mich führt;
Nimm mir von Deinen Gaben,
Was leicht mir schädlich wird.
Bereite mich hienieden,
Dich einst, o Herr, zu seh'n,
Und laß mich dann in Frieden
Zu Dir hinübergeh'n.

Herr, die Geliebten kennet,
Für die ich jetzt auch fleh',
Dein Herz – eh' sie noch nennet
Mein Mund – aus Deiner Höh';
Erhalt' uns bis an's Ende
In Dir durch Dich vereint,
Und Deinen Engel sende
Dem Herzen, welches weint.

O Du, der Sonne Führer,
Mein Gott, mein Freund bist Du!
Du, aller Welt Regierer,
Schaust mir auch heute zu.
Es fällt von meinem Haupte
Kein Haar, eh' Du es weißt;
Wenn ich dies immer glaubte,
Wie selig wär' mein Geist!


 

 


Gedicht aus: Deutschlands Dichterinnen.
Blüthen deutscher Frauenpoesie
aus den Werken deutscher Dichterinnen
der Vergangenheit und Gegenwart
ausgewählt von Karl Wilhelm Bindewald
Osterwieck / Harz o.J. [1895] (S. 335-336)

Bild: (c) Gerd Altmann Pixelio.de




 

 

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