Das Sonntagsgedicht

Geistliche Gedichte deutscher Dichterinnen
(vom 10. Oktober 2010)

(c) Gerd Altmann Pixelio.de




Johanna Claren
(um 1887)



Jesus in der heiligen Schrift


Wenn in dem Buch der Bücher ich gelesen,
Den Geist versenkt in jenes höchste Wesen,
Das, Gott und Mensch, zur armen Erde kam, –
War's stets ein Doppelzug im klaren Spiegel,
Bezeichnet mit des heil'gen Geistes Siegel,
Der mir mein Herz erwärmte wundersam.

Es steht der Herr, umgeben von den Kleinen,
Er will der holden Unschuld sich vereinen
Und taucht den Blick in diese klare Flut.
Dann, aufwärts wendend ihn zum Vater wieder,
Fleht Er den Segen auf die Kinder nieder,
Im Antlitz heil'gen Lächelns milde Glut.

Von Bergeseinsamkeit will Jesus schauen
Auf seine Stadt im Kranze stolzer Auen:
Jerusalem zu seinen Füßen liegt.
Er weint; o sagt, wem diese Thränen gelten?
Schon eine kann erlösen tausend Welten
Und Liebe die Gerechtigkeit besiegt.

Mein glühend Herz! Dem Einz'gen gilt dein Lieben.
O! jedes Wunder, das hier aufgeschrieben,
Es lehrt dich strengen Glaubens Pflichtgebot;
Doch will er Segen lächeln auf die Kleinen,
Und Mitleidsthränen um die Sünder weinen,
So lehrt Er lieben, lieben bis zum Tod.




                                                    


Gedicht aus: Deutschlands Dichterinnen.
Blüthen deutscher Frauenpoesie
aus den Werken deutscher Dichterinnen
der Vergangenheit und Gegenwart
ausgewählt von Karl Wilhelm Bindewald
Osterwieck / Harz o.J. [1895] (S. 344)

Bild: (c) Gerd Altmann Pixelio.de




 

 

zurück zur Startseite