Das Sonntagsgedicht

Geistliche Gedichte deutscher Dichterinnen
(vom 5. Dezember 2010)

(c) Gerd Altmann Pixelio.de




Eleonore von Reuß
(1835-1903)


Advent


Er kommt nun wieder voller Gnade,
Der Zionskönig Jesus Christ;
Kommt, laßt uns schmücken seine Pfade
Mit allem, was da lieblich ist.
Er hält auch dieses Jahr auf's neue
In seiner Christenheit Advent;
D'rum auf! Dich deines Königs freue,
Du Zion, das sich nach Ihm nennt.

Er kommt zu allen frommen Herzen,
Die in Ihm finden ew'ges Heil,
Er kommt in Freuden und in Schmerzen,
Er ist ihr Schatz, ihr Erb' und Theil;
Er läßt sie seinen Frieden spüren,
Wenn sie Ihm nah'n im Kämmerlein,
Will sie zu grüner Weide führen,
Tief in sein heil'ges Wort hinein.

Er kommt, wenn unter'm Glockenklingen
In sein geheiligt Haus wir geh'n;
Wenn wir sein Lob mit Freuden singen,
Und betend alle vor Ihm steh'n.
Er kommt zu uns in seinem Worte,
Er theilt als Lebensbrod es aus,
Der Herr ist selbst an diesem Orte,
Hier ist fürwahr ein Gotteshaus.

Er kommt, wenn uns're Kindlein kommen
Zu heil'ger Taufe Gnadenfluth,
Er hat sie auf den Arm genommen,
Er kommt mit Wasser und mit Blut.
Ob wir's nicht seh'n, Er ist zugegen
Mit seines Wortes Gotteskraft,
Durch dessen wunderbaren Segen
Dies Wasser neue Menschen schafft.

Er kommt, wenn an des Altars Stufen
Die Kinderschaar den Bund erneut,
Wenn ihre Seelen sehnlich rufen:
Herr Jesu, komm! wir sind bereit.
Er will zu jedem Kinde treten,
Legt seine Hände ihm auf's Haupt,
Und spricht: Mein Kind, was du gebeten,
Geschehe dir wie du geglaubt.

Er kommt zu uns, wenn auf den Knieen
Wir uns're Sündenschuld bekannt,
Und will uns aus dem Staube ziehen
Mit seiner gnadenreichen Hand;
Er spricht von allen unsern Sünden
Uns los durch seines Dieners Mund,
Er läßt uns die Vergebung finden
Und macht das kranke Herz gesund.

Er kommt zu uns in armen Zeichen,
So hält Er seligen Advent;
Geheimniß! Wunder ohne Gleichen!
Er kommt im heil'gen Sacrament;
Er kommt und uns're Herzen beben,
Er kehrt bei uns, den Armen, ein,
Wir haben Theil an seinem Leben,
Er ist nun unser und wir sein.

Er kommt, wenn uns're Augen brechen,
Er kommt als uns'res Todes Tod,
Und will zu uns'rer Seele sprechen
In ihrer letzten, großen Noth;
Er führt uns durch des Todes Schrecken
Ein in des Paradieses Licht,
Er kommt und wird uns auferwecken,
Er kommt zum letzten Weltgericht!

Er kommt! Er kommt! Geht ihm entgegen,
Küßt huldigend den Menschensohn,
Daß nicht auf seinen Siegeswegen
Er seinen Zorn euch giebt zum Lohn.
Nur off'ne Hände sollt ihr bringen –
Er reicht euch seine Gnaden dar.
Laßt uns Ihm Hosianna singen
Zum Eingang in das Kirchenjahr.
 



                                                    


Gedicht aus: Deutschlands Dichterinnen.
Blüthen deutscher Frauenpoesie
aus den Werken deutscher Dichterinnen
der Vergangenheit und Gegenwart
ausgewählt von Karl Wilhelm Bindewald
Osterwieck / Harz o.J. [1895] (S. 287)

Bild: (c) Gerd Altmann Pixelio.de




 

zurück zur Startseite