"Ach Gott, ach Gott, wie kommt der Tag so früh!"

Das Tagelied der Troubadours, der Minnesänger und anderer
 


Lasker-Schüler (1869-1945)
Abschied

 


Heinrich von Morungen
(um 1225)
 

Einmal und nicht wieder

O weh!
Wenn nimmermehr ich seh'
Hell leuchten durch die Nacht
Noch weißer als der Schnee
Des Leibes holde Pracht!
Der täuschte mein Gesicht,
Als wenn das Mondenlicht -
War mir's - aus Wolken bricht.
Da kam der Tag.

'O weh!
Soll nicht hinfort er je
Den Tag hier dämmern seh'n
Und ohne Herzensweh
Die Nacht uns hier vergeh'n?
"O weh, der Morgen graut!"
So seufzt' und klagt' er laut,
Als jüngst wir uns geschaut.
Da kam der Tag.'

O weh!
Sie küßte mich so viel,
Als mich der Schlaf ergetzt,
Und manche Thräne fiel
Und weckte mich zuletzt.
Ich sprach ihr Trost in's Herz,
Bis sie vergaß den Schmerz
Und mich umschlang mit Scherz.
Da kam der Tag.

'O weh!
Wie sah er gar so oft
Mich innig an und warm;
Dann wollt' er unverhofft
Beschau'n den bloßen Arm;
Und ließ ich das gescheh'n:
Nie konnt' er satt sich seh'n.
Wie soll ich das versteh'n?
Da kam der Tag.'

Nachgedichtet von
Wilhelm Storck (1829-1905)

Aus: Buch der Lieder aus der Minnezeit
von Wilhelm Storck
Münster Adolph Russell's Verlag 1872 (S. 263-264)
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O weh, soll aber mir nimmer je
Still leuchten durch die nacht
Noch weisser denn ein schnee
Ihr leib so wohl gemacht?
Der trog die augen mein,
Ich wähnte, es sollte sein
Des lichten mondes schein,
Da tagte der tag.

"O weh, soll aber ihm nimmer je
Der morgen so hier scheinen,
Dass uns die nacht vergeh,
Und wir nicht brauchen weinen?
O weh, nun ist es tag,
So seufzte seine klag,
Als er jüngsten bei mir lag,
Da tagte der tag."

O weh, sie küsste ohne zahl
In meinem schlafe mich,
Da gossen hin zu tal
Ihre tränen nieder sich.
Ich sagt ihr tröstlich ding,
Dass sie vom weinen ging
Und mich allumbefing,
Da tagte der tag.

"O weh, dass er so inniglich
In mich versunken war!
Als er aufdeckte mich,
So wollt er hüllen bar
Meine arme schauen bloss,
Es war ein wunder gross,
Dass ihn das nie verdross,
Da tagte der tag."

Nachgedichtet von Friedrich Wolters (1876-1930)

Aus: Minnelieder und Sprüche
Übertragungen aus deutschen Minnesängern
des XII. bis XIV. Jahrhunderts von
Friedrich Wolters. Zweite Ausgabe Berlin 1922 Bei Georg Bondi (S. 51-52)

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Tagelied

Er
O weh, soll mir nicht wieder je
Hell leuchten in der Nacht
So weiß wie frischer Schnee
Ihr Leib in lichter Pracht!
Der trog die Augen mein:
Ich wähnt, es sollte sein
Des lichten Mondes Schein,
Da tagt' es.

O weh, sie küsste sonder Zahl
Im Schlaf mich inniglich.
Da fielen hin zu Thal
Die Thränen über mich.
Ich tröstete sie lang:
Sie that den Augen Zwang,
Mich in die Arme schlang:
Da tagt' es.


Sie
O weh, daß ich ihn nimmer seh
Verweilen all den Morgen,
Wenn uns die Nacht vergeh,
Daß wir nicht dürfen sorgen.
O weh, der Tag ist da!
Wie gieng es ihm so nah,
Als er den Tag ersah:
Da tagt' es.

O weh, daß er so oft sich stahl
Zu mir beim Abendgraun;
So wollt er allemal
Meine bloßen Arme schaun.
Und fand die Bitte Statt,
So sah er nie sich satt,
Daß nichts gewundert hat.
Da tagt' es.

Nachgedichtet von
Karl Simrock (1802-1876)

Aus: Lieder der Minnesinger von Karl Simrock
R. L. Friedrichs Elberfeld 1857 (S. 98-99)
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