Liebeslieder der Völker (Volkslieder)

 


Afghanische Liebeslieder



Liebeslied

Zusammen stürzten jäh um dich
Heut meines Herzens Hallen,
Und Thränen netzen mein Gewand,
Die aus den Augen fallen.

Dein Antlitz leuchtet sonnengleich
Und sendet tausend Strahlen
Wie Blitze aus; und bricht mein Herz -
So wirst du damit prahlen.

Aus meinem Herzen bricht ein Strom,
Ein Wellenschlag von Liedern;
Es strömt - und blendet mich -
Das Blut aus meinen Augenliedern.

Und denk' ich an dein Schönheitsmal,
Vergehen meine Schmerzen;
Doch wie der Wind entweicht dein Bild,
Lässt Sehnsucht mir im Herzen.

Heil war mein Herz; du hast es mir
Verwundet mit den Locken,
Die dir die Stirn umwallen und
Mich in die Knechtschaft locken.

Ein Liebesfeuer brennt in mir.
Ach, du bist fern, gefangen,*
Drum bleicht das Antlitz, Liebste, mir
Ein ungestillt' Verlangen.

Zusammen stürzen jäh um dich
Heut' meines Herzens Hallen,
Und Thränen netzen mein Gewand,
Die aus den Augen fallen.
(S. 352-353)

* im Hause des Gatten

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Liebeslied von Mina

Vom Dolch der Trennung ganz durchbohrt,
Sitz ich in Trübsalsnacht.
Heut, als sie kam, hat sie mein Herz
Geraubt ganz sacht, ganz sacht.

Im Kampfgewühl, blutüberströmt,
Flieh' ich zu deiner Macht:
Du bist mein Arzt, du heilst mein Leid
Allein, ganz sacht, ganz sacht.

Die Apfelbrust, der Zuckermund,
Der Perlenzähne Pracht
Hat mich besiegt: die Thräne tropft
Hinab ganz sacht, ganz sacht.

Dir dien' ich stets. O denke mein,
Der rastlos für dich wacht,
Dein erster Ritter, früh und spät,
Getreu und sacht, ganz sacht.
(S. 355-356)

Mina ist der beliebteste Dichter der Afghanen,
dessen Schöpfungen zu wahren Volksliedern geworden sind.

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Misra's

1.
Ruhm und Ehre, Leben, Habe,
Geb' ich alles hin.
Für die Augen meines Mädchens,
Dem so gut ich bin.

2.
So rot sind die Lippen,
So weiss die Zähne dein,
Dass selbst darüber staunen
Des Himmels Engelein.

3.
Wenn der Duft aus deinen Locken,
Schönste, lieblich zu mir dringt,
Blüh' ich auf wie eine Rose
Morgens, wenn die Lerche singt.

4.
O Briefchen, wie glücklich ist dein Geschick!
Du gehst zum Liebchen, ich bleibe zurück.

5.
Warum reicht ihr mir den Spiegel?
Ach, ich weiss es nur zu gut:
Meine Jugend, eingeäschert
Ist sie von der Liebe Glut.

6.
Höre, Freund, den guten Rat:
Traue nicht dem Feinde,
Der mit dir versöhnt sich hat,
So wie einem Freunde.

7.
Die Welt ist dunkel um mich her,
Seit ich von dir geschieden,
Bis deiner Schönheit Fackel mir
Bringt wieder Licht und Frieden.

8.
Die Blumen, die ich dir gesandt,
Hast du zurückgewiesen:
O, könnt' ich Sterne schenken dir
Dort von den Himmelswiesen!

9.
Komm, komm, dass ich dich küsse,
Mir träumte in dieser Nacht,
Du lägest tot im Grabe,
Voll Gram bin ich aufgewacht.

10.
O Meister, du hast meiner Liebsten Grab
Fürwahr zu fest gemacht:
Da liegt sie nun für alle Zeit
In ewiger Grabesnacht.

11.
Dein Antlitz ist ein Buch, die Lippen
Sind seine Seiten, holdes Wesen!
Ich stürze nieder auf die Knie
Und fange an, das Buch zu lesen.
(S. 356-358)
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übersetzt von August Seidel (1863-1916)

Aus: Beiträge zur Volks- und Völkerkunde
Siebenter Band: Anthologie aus der asiatischen Volkslitteratur
Herausgegeben von August Seidel
Weimar Verlag von Emil Felber 1898

(Anmerkung von August Seidel: Die Lieder sind aus:
James Darmesteter [1849-1894] Chants populaires des Afghans. Pushtu text
(in Pushtu characters) with French translation, and an introduction
on the Pushtu language and literature 1888-90)



 


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