Philosophie der Liebe

Liebesgedichte an die Liebe, über die Liebe
und das menschliche Herz
von deutschen Dichtern und Dichterinnen

 


Franz Marc (1880-1916)
Rotes und gelbes Reh



Friedrich von Hagedorn
(1708-1754)


Die Wunder der Liebe

Der Liebe Macht ist allgemein,
Ihr dient ein jeder Stand auf Erden.
Es kann durch sie ein König klein,
Ein Schäfer groß und edel werden.
Tyrannen raubt sie Stolz und Wuth,
Den Helden Lust und Kraft zum Streiten;
Der Feigheit gibt sie starken Muth,
Der Falschheit wahre Zärtlichkeiten.

Der Einfalt schenkt sie den Verstand,
Den sie der Klugheit oft entwendet.
Ein Grillenfänger wird galant,
Wenn sie an ihm den Sieg vollendet.
Des strengen Alters Eigensinn
Verwandelt sie in Scherz und Lachen,
Und diese holde Lehrerinn
Kann auch die Jugend altklug machen.

Ein Spanier vergißt den Rang,
Unedlen Schönen liebzukosen:
Ein junger Franzmann den Gesang,
Den Wahn, das Selbstlob der Franzosen.
Wenn jenen Reiz und Schönheit körnt,
Entsaget er dem Hochmuthstriebe:
Und dieser seufzet und erlernt,
Die Freyheit prahle, nicht die Liebe.

Sie giebt der deutschen Männlichkeit
Die sanfte Schmeicheley beym Küssen,
Den Heiligen die Lüsternheit,
Und auch den Juden ein Gewissen.
Sie fand, so oft sie sich nur wies,
Verehrer in den besten Kennern.
Nur sie entwarf ein Paradies
Den ihr geweihten Muselmännern.

Ja! deine siegende Gewalt,
O Liebe! wird umsonst bestritten.
Dir unterwirft sich Jung und Alt
An Höfen und in Schäferhütten.
Doch meine Schöne hofft allein
Den Reizungen zu widerstehen.
O laß sie mir nur günstig seyn!
Wie wirst du dich gerächet sehen!


Aus: Des Herrn Friedrichs von Hagedorn
sämmtliche poetische Werke Dritter Theil
Carlsruhe bey Christian Gottlieb Schmieder 1775 (S. 26-27)




 


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