Philosophie der Liebe

Liebesgedichte an die Liebe, über die Liebe
und das menschliche Herz
von deutschen Dichtern und Dichterinnen

 


Franz Marc (1880-1916)
Rotes und gelbes Reh



Johann Heinrich Voß
(1751-1826)


Gott, die Liebe

Gott ist die Lieb'! Ihr Himmel, hallet:
Die Lieb' ist Gott! im Sternenchor!
Aus unsers Herzens Tiefen wallet
Gesang: Die Lieb' ist Gott! empor.
Er warf wie Staub der Sonnen Sonnen;
Und Welten kreis'ten rings in Wonnen:
In matter Erdenfreude kreis't,
In Wonne bald, des Menschen Geist.

Gott ist die Lieb', auch wann Gewittern
Der Städt' und Wälder Flamme saus't!
Wann aufgewühlt die Berge zittern,
Und hoch in's Land die Woge braus't.
Gott ist die Liebe, wann umnachtet
Auch Krieg und Pest die Völker schlachtet;
Wann auch der grause Geistestod
Der Völker Licht zu löschen droht.

Gott ist die Liebe! Bald erstehet
Der edle Geist in junger Kraft.
Der Morgenröthe Fittig wehet,
Und heiter strahlt die Wissenschaft.
Bald höher steigt und höher immer
Die Menschlichkeit, der Gottheit Schimmer;
Von Menschenlieb' und Menschenlust,
Der Wonnen Vorschmack, bebt die Brust.

Ob auch der Geist sich endlos hübe;
Vor dir ist, Gott, sein Wissen Dunst!
Die reinste Gluth der Menschenliebe
Ist nur ein Fünklein deiner Brunst!
Einst hebst du uns vom Lebenstraume
Zu deines Urlichts fernstem Saume!
Wir nahn mit Zittern deinem Licht,
Und hüllen unser Angesicht!


Aus: Sämmtliche poetische Werke
von Johann Heinrich Voss
Herausgegeben von Abraham Voss
Einzig rechtmäßige Original-Ausgabe in einem Bande
Leipzig 1835 Immanuel Müller (S. 198-199)


 


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