Liebeslyrik ausländischer Dichterinnen

von der Antike bis zum 20. Jahrhundert
(in deutscher Übersetzung)

 


Jeanne Marie Guyon
(1648-1717)

französische Dichterin und Mystikerin




Sinnbild XXI.
Laß mein Herz unbefleckt seyn in deinen Rechten,
daß ich nicht zu Schanden werde. Psalm 118, 30


Hier, Liebster! ist mein Herz, es soll nicht mein, fort heissen,
Es ist alleine dich zu lieben nun bereit:
Du wollest mir die Gnad erweisen,
Daß es in dir entbrenne heut.

Du kannst in deiner Hand von Falschheit es befreyen:
Und ich mißbrauch es dann nicht mehr,
Weil ich mich halt an deine Lehr,
Ach! daß doch dein Gesetz in mir sich mög verneuen!

Und ich von deinem Weg nicht seye abgewandt,
Behalt mein Herz in deiner Hand,
Regier's, mein Freund, den ich erlesen!
Noch mehr, verlier's in deinem Wesen.

Ach! laß es nimmer aus, verbirge es vor mir,
Daß, wann ich es auch such', nicht finde,
Und sich in deinen Abgrund gründe,
Ich werde dich dafür, Herr! preisen für und für.


aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beföfderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Erster Theil Frankfurt und Leipzig 1802 (S. 28)

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Ein anderes

Er hat mein Herz, ich hab das Seine,
Er machet daß mein Wille sich
Ganz mit der höchsten Lieb' vereine,
Der Wechsel ist recht wunderlich;
Sein Herz und meines sind so angenehm vermenget,
Daß eins am andern schön, fest, unzertrennlich hänget.


aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beföfderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Erster Theil Frankfurt und Leipzig 1802 (S. 28)

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Sinnbild XXII.
Komm, mein Geliebter, laßt uns aufs Felde hinaus gehen,
und auf den Dörfern herbergen. Hohel. Salom. 7, 11

Komm, komm, mein Bräutigam, laßt uns aufs Felde gehen,
Mich freut das Stadtgetümmel nicht,
Du bist doch überall mein Licht,
Ich will mich lieber gar um eine Höhl' umsehen.

Da ich von allem losgemacht,
Dich liebe und mit dir Gespräch mög' halten,
Da will ich in der stillen Nacht
Bewundern deine Sorg für mich, und weises Walten.

Ich wandele mit dir und werde gar nicht matt,
Du pflegest neue Kraft zu schenken:
Man gehet, ohn' daran zu denken,
Stets fort, wer deinen Weg einmal erwählet hat.

Wir wollen also gleich uns auf den Weg begeben,
Und keinen Schritt zurücke geh'n:
Vielleicht möcht ich in Irrthum schweben,
Wenn du, o Lieb', nicht würdest bey mir steh'n.

Wie sollt ich daran Zweifel tragen?
Wär ich ein Augenblick allein,
Was fände ich nicht schon zu klagen,
Wo du nicht würdest, Herr! mein Aug und Führer seyn!

aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beföfderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Erster Theil Frankfurt und Leipzig 1802 (S. 29)

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Sinnbild XXIII.
Zeuch mich dir nach, so laufen wir im Geruch
deiner Salben. Hohelied Salom. 1, 4

Seele

Ach zeuch mich, zeuch mich für und für;
So laufen wir, mein Freund, nach dir:
Der edele Geruch, den uns der Himmel schenket,
Macht, daß man an kein Leid mehr denket;

Er reizt und muntert auf das Herz:
Er treibet von uns allen Schmerz,
Er wirkt, daß wir uns dir ergeben:
Es kann ohn' den Geruch mein Herze nimmer leben.

Bräutigam

Du bist wohl noch ein Kind, wann's an das Lieben geht,
Dieß ist es nicht, worin's besteht:
Du willst nur den Geruch und Süßigkeiten schmecken,
Und deine Schwachheit dadurch decken.

Es ist ein kürzerer und noch viel edler Weg,
Der reinen Liebe schmaler Steg,
Da sucht man nicht Geruch noch Zärtlichkeit zu haben;
Die Weisheit will uns da selbst laben.

Wo Leiden, Pein und Plag und lauter Schmerzen sind,
Erkennet man den rechten Freund.
Wie Seele! willst du noch in lauter Rosen leben,
Da ich mein Leben hab in Schmerzen aufgegeben?
Folg mir im Leiden nach, stirb an dem Kreuz der Pein,
So wirst du meiner würdig seyn.


aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beföfderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Erster Theil Frankfurt und Leipzig 1802 (S. 29-30)

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Sinnbild XXIV.
O wer gibt mich dir, mein Bruder, der du meiner
Mutter Brust saugest, daß ich dich allein draussen
finde, und dich küsse, daß mich jetzt niemand verachte.
Hohelied Salom. 8, 1.

O daß ich meinen Bruder fände,
Der an der Mutter Brüsten liegt!
Daß ich ihn auf mein Herze bände,
Und küssete ihn höchst vergnügt!

Wann er mit seinem Kuß mich einstens wird erquicken,
Soll mich kein Hohn noch Spott mehr drücken:
Ich will mit ihm aufs Felde geh'n,
Da soll man seine Wunder seh'n.

O Kind! daß du die Pein verschaffst, die mich betroffen,
Du lässest mich auf's neue hoffen;
Nun drück ich dich an mich; o welch ein Wolluststag!
Da ich mein Herz dir öffnen mag;

Daß ich sey eins mit dir, ist all mein Dicht und Denken,
Du wollst mir diese Gnade schenken,
So werd ich ohne Sorgen seyn,
Und du in friedlichen Besitz mich nehmen ein.


aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beföfderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Erster Theil Frankfurt und Leipzig 1802 (S. 30-31)

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Sinnbild XXV.
Ich suchte des Nachts im Bette den meine Seele liebet,
ich suchte ihn, aber ich fand ihn nicht. Hohel. Salom. 3, 1.

Du suchst im Bett mit aller Macht
Den Bräut'gam, wie bist du betrogen!
Vergebens suchst ihn da in dieser düstern Nacht;
Die Stätte hat er nicht bezogen.

Geh weiter, siehe da, wie auf dem Kreuz er liegt,
Wo Dorn und Nägel ihn durchbohren;
Dieß ist allein der Ort, wo er sich hingefügt,
Er hat Schmerz, Pein und Noth zur Ruhe sich erkohren.

Vergebens sucht man Jesum da,
Wo man die Ruhe will in Weichlichkeit erwerben:
Dann denen ist er niemals nah;
In Schmerzen lebet er, in Thränen will er sterben.

Es müht sich Jesus immerzu,
Daß er uns rette vom Verderben,
Im Leiden ist nur seine Ruh.
[hier fehlt eine Zeile]

Leid und stirb allem ab, so wirst du ihn bald finden,
Den Bräut'gam, den dein Herz begehrt:
Er will sich nicht mit der verbinden,
Die ihn im Bette sucht, die hält er sein nicht werth.


aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beföfderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Erster Theil Frankfurt und Leipzig 1802 (S. 32-33)

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Sinnbild XXVI.
Ich will aufstehen, und in der Stadt umgehen auf den Gassen
und Strassen, und suchen den meine Seele liebet:
ich suchte ihn, aber ich fande ihn nicht. Hohel. Salom. 3, 2


Seele

Nein! Ruhe hab ich mir nicht mehr zum Zweck erwählt,
Ich laufe hin und her den Bräutigam zu sehen;
Im Suchen habe ich gefehlt,
Es soll nicht mehr von mir geschehen.
Ich laufe hin und her in dieser grossen Stadt,
Daß seiner Lieb' ich werde satt.

Bräutigam

O Braut! welch thörichtes Beginnen?
Wie übel suchest du, wie übel und verkehrt!
Du folgst alleine deinen Sinnen,
Und was dich deine Neigung lehrt.

Du suchest ihn im Bett; da er am Kreuz erhöht:
Da Jesus nahe ist, laufst du durch alle Gassen.
Das Herz sich in der Wahl vergeht:
Ach! hüte dich, dieß Häuschen* zu verlassen.
* Das Herz

Lieb', leide nur für den, der's  Herz will nehmen ein,
Daß er sich mög' dahin begeben:
So wirst du höchst vergnüget leben,
Weil jeden Orts und Zeit das höchste Gut ist dein.

Du wirst in allem Kreuz den Frieden stets geniessen,
Es ist kein eigen Wollen da,
Das Herz ist höchst vergnügt, daß ihm dieß Gut so nah,
Es wird das übrige nun alles ihm zufliessen.


aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beföfderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Erster Theil Frankfurt und Leipzig 1802 (S. 33-34)

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Sinnbild XXVII.
Habt ihr nicht gesehen den meine Seele liebet?
Da ich ein wenig für ihnen über kam, da fand ich den,
den meine Seele liebet. Ich habe ihn gehalten, und will ihn
nicht lassen. Hohel. Salom. 3, 3.

Nachdem ich mich von aller Kreatur gekehret,
Da fand ich meinen Herzensfreund:
So lang ich die Natur gehöret,
War ich mit Jesu nicht vereint.

Ich will ihn, meinen Bräut'gam, halten,
Nicht leiden, daß er sich entferne mehr von mir;
Es soll die Liebe, die ich schwöre, nicht erkalten,
Und meine Treue währet für und für.

Wir wollen, liebster Freund, in Einsamkeit hier bleiben,
Da ich dir meine Lieb' entdeck',
Dieß kann mir alle Noth und Unruh ferne treiben;
Dich haben, ist, Herr! meiner Wünsche Zweck.

Da will ich, los gemacht von allen Dingen,
Erzählen meine Liebespein:
In deinem Herzen wolltst mein Herz zur Ruhe bringen,
Und laß es in dir ruhig seyn.

aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beföfderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Erster Theil Frankfurt und Leipzig 1802 (S. 34)

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Sinnbild XXXI.
Ich beschwöre euch, ihr Töchter Jerusalems, findet ihr
meinen Geliebten, so sagt ihm, daß ich für Liebe
krank liege. Hohelied Salom. 5, 8.

O Töchter Salems! hört, und laßt doch mit euch handeln,
Die ihr pflegt hin und her zu wandeln,
Trefft ihr je meinen Bräut'gam an,
So saget ihm, daß ich vor Liebe nicht mehr kann.

Ich liefe, leider! auch wie ihr,
Daß ich anträfe meinen Lieben:
Wie süsse schien die Arbeit mir,
Da ich ihn suchte für und für:
Doch kann ich jetzt vor Schwachheit nichts mehr üben.

Es hat sein Liebespfeil aufs höchste mich verletzt,
Daß mein Fuß keinen Schritt mehr setzt,
Die Ruhe finde ich in seiner Lieb' zu brennen:
Und diese Ruhe bringt den Tod.
Sollt ich nur einmal noch mich hören Freundinn nennen,
So wäre ich gesund und frey von aller Noth.

Ach! sagt ihm, daß ich wirklich sterbe;
O Schwestern! mahlet ihm mein schweres Leiden vor:
Wie meine Schmerzen doch so herbe;
Ich sinke schon, mein Herz kann nimmermehr empor.


aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beföfderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Erster Theil Frankfurt und Leipzig 1802 (S. 38)

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Sinnbild XXXII.
Erquickt mich mit Blumen, und umsteckt mich mit Äpfeln,
dann ich bin krank vor Liebe. Hohelied Salom. 2, 5.

Ich sterbe, Schwestern! Ach! mit Blumen decket mich,
Daß keine wegbegebe sich,
Befleckt mit Äpfeln meine Seiten,
Die meines Freundes Garten hat:
Verberget mich vor allen Leuten;
Bleibt ihr nur da, ich bin sehr matt.

"Soll dich der Blumen Flor, o liebe Braut, noch schmücken?
Was mögen Äpfel thun, da dich Ohnmachten drücken?
Hab' reine Liebe nur, hab' diese nur allein,
Wirst du nicht ohne Blumen seyn.

Es sind nicht diese Kleinigkeiten,
Wo dir nun Trost herfliessen soll:
Dein Freund will Dorn und Kreuz als Blumen dir bereiten,
Und dich mit diesen werfen voll.

Du mußt den Schmack der Äpfel lassen,
Aus Großmuth auch dich selber hassen,
Wann du gefallen willst dem Seelenfreund,
Dieß ist der Weg, der dich mit ihm vereint."


aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beföfderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Erster Theil Frankfurt und Leipzig 1802 (S. 39)

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Sinnbild XXXIII.
Mein Geliebter ist mein, und ich bin sein,
der unter den Rosen weidet, bis es Tag wird,
und die Schatten weichen. Hohelied Salomonis 2, 16

So sey es dann, ich will der Blumen keine mehr,
Als nur in einem Kranz zu fassen
Für meinen Freund, dem ich zu Liebe nun verlassen
Die Süßigkeit, die mich ergötzt so sehr.

Die Lilien, die mich umgeben,
Bedeuten meine Reinigkeit,
Die giebt mein Bräutigam, mein Leben,
Was nicht von ihm herkommt, ist eitel und Schwachheit.

O Seelenbräutigam, die Gaben halt zurück;
Was du mir giebst, werd ich sogleich dir wieder schenken:
Nicht nur allein den Blumenschmuck,
Mein Herz ist selber dein, ich will nicht mehr dran denken.

Wir freuen uns allhier in Lilien mit Macht,
Bis selbst das Morgenroth anbreche;
Wie lieblich ist mir jede Nacht,
Weil du erlaubst, daß ich mich stets mit dir bespreche.

Wann ich ganz deine bin, so bist du auch ganz mein,
Mein Wohl, o heil'ge Freudentriebe!
Die Lieb' ist mein Gesetz allein;
Du liebest mich, du weißt, o Herr! daß ich dich liebe.


aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beföfderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Erster Theil Frankfurt und Leipzig 1802 (S. 39-40)

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Sinnbild XXXIV.
Mein Geliebter ist mein, und er hält sich auch
zu mir. Hohel. Salom. 7, 10.

Mein Herz folgt dir stets nach, o trauter Seelenfreund,
Wie Stahl sich mit Magnet vereint;
Allda bemerktest du, wie auf dem See-Compasse,
Durch Blick' und Worte, die ich fasse,
Dein's heil'gen Willens reine Lehr,
Und wendest mich bald hin bald her.

Auch kehrt die Sonnenblum' sich nach der Sonnenscheiben,
Sie sucht aus Liebe nächst bey ihr zu stehn;
Und weil sie muß auf Erden bleiben,
So wünscht sie doch mit ihr den Thierkreis durchzugehn.

So kehrt mein Herz, o Liebe! sich zu dir,
Die Liebe ist mein Licht und Leben,
Sie will sich mir zum Leitstern geben,
Sie wohnet Tag und Nacht bey mir.

Entfernt sie sich von mir, muß ich im Finstern wandeln,
Wann sie mir nahe ist, wird aus der Nacht der Tag,
Daß ich die Wahrheit sehen mag,
Sonst alles ohne sie, heißt nur mit Irrthum handeln.

Ohn' sie läg' ich in Todesruh;
Sie ist die Seele meiner Seelen;
Ich bin befreyt von allem Quälen,
Ohn' daß ich mir Gewalt anthu'.

Ich bin nun Sein und Er ist Mein;
O wie die Liebe so schön spielet,
Und nichts ungleiches man hier fühlet,
Dann Er will selbst die Stütze seyn.


aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beföfderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Erster Theil Frankfurt und Leipzig 1802 (S. 40-41)

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Sinnbild XXXV.
Meine Seele ist zerschmolzen, nachdem der Geliebte
geredet hat. Hohel. Sal. 5, 6.

O reine Gottesflamm, o Feuer das ergötzet,
Und doch die Braut ins Nichts versetzet!
Ich schmelze, wann des Bräut'gams holdes Wort
Sich läßt in meinem Herzen hören,
Und selbst auflöst den Lebensort*;
[* das Herz]
Wie hat die Liebe doch so Wunderlehren,
Der Geist fließt aus in seinem Hort.

Du bists, o Gotteslieb', der diese Ändrung macht,
Die Seele läßest du in den Geliebten fliessen;
Sie wird durch deinen Stral ins lauter Nichts gebracht,
Da findet sie das All, das andre kann sie missen.
Wenn nun die Eigenheit verbannt,
Wird uns die Wahrheit zugewandt,
Wir finden sie da, wo sie pflegt sich zu ergiessen.


aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beföfderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Erster Theil Frankfurt und Leipzig 1802 (S. 41-42)

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Sinnbild XLII.
Wann werd' ich hineinkommen, und erscheinen
vor Gottes Angesicht. Psalm 43, 3.

Die Seele

Wann wirst du mir die Gnad erweisen,
Daß du mich rufst zu dir, mein Freund!
Damit ich sey mit dir vereint?
Wann wird mein Wohl in dir beständig heissen?

Wann werd ich endlich noch dein holdes Antlitz sehen?
Ich seufze nach dir Tag und Nacht:
Wird meine Liebe nicht veracht'
So laß mich aus dem Diensthaus gehen.

Du bist, o Freund! mein höchstes Gut,
Mein Wohl, mein Grund und meine Ehre:
In dem allein mein Herze ruht;
Du hast es ganz besiegt, o daß dein Ruhm sich mehre.

Wie lang soll ich mein Freund noch schmachtend seyn,
Da du dies Feuer doch erwecket,
Wie lange soll ich seufzen ob der Pein?
Du ziehst den Geist zu dir und bleibst verstecket!
Wie selig war der Zug, wie glücklich wär' ich nicht,
Wann mich der Tod beträf' vor deinem Angesicht?



Der Bräutigam

O höchst beglückte Braut! wie herrlich ist dein Glück!
Du meynst in grosser Noth zu schweben;
Um dir zu schenken neues Leben,
Braucht's nur, daß ich den Vorhang zieh zurück.

O möchtest du, o Braut! doch dies Geheimniß kennen!
Du suchtest ihn im Glauben, nicht im Sinn.
Du würdest nicht so oft den Tod mehr nennen,
Du gäbst dem Willen dich des Königs gänzlich hin.

Man meynt es seyen Gottes Triebe,
Was doch nichts ist als Eigenliebe,
Man suchet nur Geschmack an Gott;
Der will, man soll sich ganz ergeben
Ohn' einige Ausnahm; nicht fürchten Pein noch Tod
Der ehret ihn wohl nicht, wer nur nach Wunsch will leben:
Das Wünschen rühret nur von Eigenwollen her;
Man überlasse sich, und wünsche gar nichts mehr.

aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beföfderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Erster Theil Frankfurt und Leipzig 1802 (S. 48-49)

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Sinnbild XLIII.
O hätte ich Flügel wie Tauben, daß ich flöge
und etwa ruhete. Psalm 54, 7.

Laß doch mit Taubenflügeln mich
Zu dir, mein Bräut'gam, mich aufschwingen,
Allwo ich möge ewiglich
Dir süsse Liebeslieder singen.

Mein Herz und Seele sind nicht mehr auf dieser Erden,
Sie wohnen allbereit im reinen Himmelszelt:
Zerstöre, was mich noch aufhält,
Den Leib, der will zuwider werden.

Der Leib sucht mich zurück zu ziehen,
Die Seel ist schon an jenem Ort;
Laß endlich doch mein Wohlseyn blühen,
Und daß ich vor dir sterb, mein Hort!

Die Leiden wollen sich vermehren,
Vor Unruh führ' ich Klageton;
Reiß mich, ich will dich stets verehren,
Und rufe mich zu dir, o König zu Zion;

Da Gottes Friede wird alsdann von mir geschmecket,
Womit die Welt nicht wird begabt.
Wohl dem, der vor der Welt verstecket,
In diesem Wollustmeer sich Tag und Nacht erlabt.


aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beföfderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Erster Theil Frankfurt und Leipzig 1802 (S. 49-50)

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Sinnbild XLIV.
Wie lieblich sind deine Wohnungen Herr Zebaoth,
meine Seele verlangt und begehrt, und wird
kraftlos nach den Vorhöfen des Herrn. Psalm 83, 2. 3.

Wie lieblich ist dein Zelt, o dörft' ich da einkehren!
Herr Zebaoth, wie würde ich ergötzt!
Dich muß man, reine Schönheit, ehren,
Ich bin ganz ausser mir gesetzt.

Du ziehst mich, Herr, aus meinen Sinnen,
Ich weiß nicht mehr was ich vermag:
Je mehr die Liebe wächst von innen,
Je wen'ger weiß ich, was ich sag.

Es ist all Reden hin, o Buhle!
Ach! rede du für mich, mein höchstes Gut!
Ich lerne jetzt in deiner Schule,
Daß ich nichts bin, und in dir alles ruht.

Ich suchte dich durch eigen Üben,
Und stützte mich auf meine Kraft;
Doch als die Weisheit mich getrieben,
Da lernte ich, was sie für Wunder schafft,
Ich lernte, welches war im Lieben meine Blösse,
Und daß, wann mich Entzückung hingerafft,
Es allzuniedrig sey vor meines Gottes Grösse.


aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beföfderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Erster Theil Frankfurt und Leipzig 1802 (S. 50-51)

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Sinnbild XLV.
Fleuch mein Geliebter, und sey gleich einem jungen Hirschen
auf den Würzbergen. Hohelied Salomonis 8, 14.

Welch hohe Lektion hast du mich, Herr, gelehrt,
O schönster Lehrer! wie ist nun mein Geist vergnüget!
Ich liebe nicht mehr so verkehrt,
Das Deine suche ich, wie einer Braut oblieget.

Ich suchte dich für mich, jetzt such' ich dich für dich:
Flieh nur, mein Freund, verlasse mich,
Flieh immer hin und suche Seelen;
Ich will für mich nichts mehr erwählen,

Als reine Liebe nur, als deinen Ruhm allein;
Lauf', laufe bis ans End der Erden,
Du magst so lang abwesend seyn,
Bis daß dein Lauf vollendet möge werden,
Nimm tausend Herzen ein: es bleibt mein Geist vergnügt;
Du hast mein Wünschen ganz besiegt.

Die reine Liebe war zum Zweck von mir gestecket,
Und doch mit lauter Koth beflecket,
Als ich dich liebete, da suchte ich nur mich;
Wie! sollte man dann so, o Höchster, lieben dich?

Nun lieb' ich dich auf andre Weisen
Die Lieb' ist ohne Zwang, ganz frey,
Und muß doch jetzt viel stärker heissen;
Sie ist einfältig, rein und ohne Heucheley.

aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beföfderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Erster Theil Frankfurt und Leipzig 1802 (S. 51-52)

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Sinnbild VII.
Wo reine Lieb' im Herzen wohnt,
Wird man mehr als zuviel belohnt.

Die Lieb ist ein unendlich Gut,
Sie will uns mit sich selbst belohnen;
O sel'ges Herz, das bey dem Bräut'gam ruht,
Und kann bey seinem Schatten wohnen!

Gott ist die Liebe, der ganz mein will seyn,
Wann keine fremde Liebe mich befangen:
Mein Lohn ist seine Ehr und Ruhm allein,
Die Liebe kann nichts anders mehr verlangen.

Geschmack und Süßigkeit sind einem edeln Muth
Nur Schmerzen über alle Massen;
Zu leiden für die Lieb' ist viel ein schöner Gut,
Und sich als Opfer schlachten lassen.

Ich liebe dich für dich, o Hoffnungsgrund und Licht:
Die hohe Liebe pflegt sich selbst als Lohn zu geben
Der Braut, so merkt auf ihre Pflicht,
Und die sich freut im Kreuz zu leben.

Die ihren Gott erträgt am gut und bösen Tag,
Die keinen Liebeswechsel leidet
In Süßigkeit, in schwerer Plag,
Und Bitter nicht vom Süssen scheidet.

Durch reine Liebe wird in uns hervorgebracht
Das Wort, wie es Maria hat geboren;
Sie hat zur Mutter Gottes sie gemacht:
Wie groß ist deine Macht und auserkohren!

aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beföfderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Erster Theil Frankfurt und Leipzig 1802 (S. 81)

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Sinnbild XVI.
Himmelwärts
Schaut das Herz

Wie jene Blume nie von ihrer Sonne weicht,
So folgt mein Herz Gott nach aus heil'gem Triebe
Mit reiner Liebe, der nichts gleicht,
Die mich in den verwandelt, den ich liebe.

Gewiß ich kann nicht mehr auf etwas anders denken,
Als nur auf Gott, der groß und alle Fülle hat;
Nichts ist auf dieser Welt, das mich mag zu sich lenken:
Er ist's, der mich bewegt, die Liebe macht mich satt.

Unendlich Wesen, stark, o Licht, das zu verehren,
Woraus die Wahrheit und die Liebe quillt;
Erleuchtest du mein Herz, pflegst mein Aug abzukehren
Von dem, was mich mit Eitelkeit erfüllt.


aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beföfderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Erster Theil Frankfurt und Leipzig 1802 (S. 94)

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Sinnbild XVII.
Ist schon dieß Feuer Anfangs klein,
Wird's bald unendlich grösser seyn.

Wann unser Herz, gleich als ein reiner Spiegel,
Empfängt den Stral der Sonnen der Gerechtigkeit,
Bricht solches Feuer alle Riegel;
Doch dieses Feuers Heftigkeit,
Ist ganz mit Lieblichkeit erfüllet,
Und brennet sanft, erweckt auch keinen Schmerz:
Es ist nun ganz gestillet
Auch in der größten Hitze unser Herz.

O Liebe, wie verzehren deine Flammen
Die Seele ganz zusammen!
Verschon' das Herze nicht;
Laß nichts mehr überbleiben:
Kann man was süssers schreiben,
Als wann die Liebe uns zernicht?

Du reinigest mich, Herr! von meinen Fehlern allen;
Du, Liebe, schmückest und beruhigst mich;
Du setzest mich in Stand, daß ich dir ewiglich
Vollkommen mag gefallen:
O welch unendlich Gut kommt mir von meinem Hort!
Mach, daß dein Feu'r in mir nun wachse immerfort.


aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beföfderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Erster Theil Frankfurt und Leipzig 1802 (S. 95)

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Sinnbild XIX.
Seht, was die reine Liebe thut,
Die uns verknüpft ans höchste Gut.

O göttlich Liebesband und Bund!
O unzerstörlich Feu'r und heil'ger Einheitsgrund,
Wie bist du doch so stark, das Herz an dich zu binden,
Es muß mein vor'ges Feu'r und Liebe ganz verschwinden.

Ein Vorwurf ohne Maaß, auf dessen Wort ich geh',
Und eine Lieb' ohn' Fehl, da ich ohn' Willen steh',
Ein reines Licht, das sich auf alle End' erstrecket,
Das knüpft mich stets an den, der mich aus nichts erwecket;
Die Freudenbande bricht die Liebe nun entzwey,
Damit ich nur allein von ihr gefesselt sey.

Und weil ich seit der Zeit mich nimmer meine nenne,
Gehöre ich dem an, den ich nun lieb und kenne:
Ach! reiß ja nimmermehr entzwey dieß Glückesband!
Ich bin, o Liebe! hin, verläßt mich deine Hand.

aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beföfderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Erster Theil Frankfurt und Leipzig 1802 (S. 98)

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Sinnbild XXIV.
Die Liebe ist und machet mild,
Nach Gottes wahrem Ebenbild.

Die Liebe machet mild, so, daß ein edles Herz
Nichts mehr besitzen mag, sie will nur immer geben,
Zu lindern eines Armen Schmerz,
Versagt sie nicht auch selbst ihr Leben.

Wann ich was Gutes thu', nehm ich's von deiner Hand,
O Liebesquelle, die nie wird vergehen,
Vor allen Leib's- und Seelenstand!
Ein recht verliebtes Herz kann sich nicht unterstehen,
Sich zuzueignen ein'ges Gut;
Sein Reichthum ist, daß es in Armuth ruht.

Die Liebe ist sein Schatz, sein Reichthum, Wohl und Gaben;
In ihr wird er die Stärk' und Weisheit haben:
Wann er von allem bloß und auf der Welt nichts hat,
Erkennt er, daß die Lieb' ihn macht alleine satt.


aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beföfderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Erster Theil Frankfurt und Leipzig 1802 (S. 105)

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Sinnbild XXV.
Die Liebe pflegt man zu beneiden,
Dieß kann der Liebende nicht meiden.

Ich liebe dich, mein Gott! viel höher als mein Leben,
Es soll die Liebe ewig seyn:
Ich sehe über mir des Neides Flammen schweben,
Doch deine sanfte Hand hält seinen Anfall ein.

Als, Herr! dein heil'ges Feu'r vom Herzen nahm Besitz;
Als deine Liebesflamm' im Innern sich vermehrte,
Die mich in dir verzehrte,
Da spürt' ich alsobald des Neides schweren Blitz
Mir folgen, wie ein Schatten, immerfort;
Ich seh' ihn stetig mir nachgehen;
Er läßt sich augenblicklich sehen
Zu aller Zeit, an allem Ort.

Sobald die reine Lieb' uns ihren Weg will führen,
So bald sie herrscht in uns, und wir sind treu,
So läßt der Neid sich spüren,
Und bringt uns Streiche bey.

Doch mag er wider mich auch noch so toben,
Will ich die Gnade loben,
Die mich, Herr! unterstützt,
Und auf das beste schützt:
Du hilfest mir, dein Feu'r bringt Wonn' und lauter Freuden;
Wer dieses grosse Gut besitzt,
Was sollte er dafür nicht leiden?

aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beföfderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Erster Theil Frankfurt und Leipzig 1802 (S. 106)

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Sinnbild XXVI.
Es ist dem Liebenden nichts schwer,
Drückt ihn gleich Last und Arbeit sehr.

O sel'ge Art von Dienstbarkeiten,
Die uns die wahre Freyheit schenkt!
O Ausbund süsser Einsamkeiten,
So das Gemüth zur Wahrheit lenkt!
O lieblich-stille Ruhezeiten;
Der wird entzückt, der auf euch denkt!


aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beföfderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Erster Theil Frankfurt und Leipzig 1802 (S. 109)

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Sinnbild XXXVII.
Süß ist der Geruch der Liebe,
O daß man hierin sich übe.

Zeuch mich zu dir, mein Gott! mein Heil und einzig Hoffen,
Durch den Geruch, den deine Salbe führt:
Es hat die Ohnmacht mich beynahe schon betroffen,
Doch als mein Herz dein Balsam hat berührt,
Erhielt ich neuen Muth, er gab mir neues Leben,
Dir stets zu laufen nach an allen Ort und Zeit:
Ich will nicht, daß du mir was anders sollest geben,
Weder auf dieser Erd noch in der Ewigkeit.

Weg Süßigkeit, Geschmack, und was man lieb mag haben;
Nur dich, mein höchster Gott! will ich allein,
Du bist mein Gut und Stärk, mein Reichthum, meine Gaben;
Durch dich alleine kann ich glücklich seyn.

Ich spür, daß der Geruch hat ungemeine Stärke,
Er ist vor allen andern mir bekannt:
Doch, Freund, den ich stets lieb', auf dessen Wink ich merke,
Das Herz ist dir alleine zugewandt.

Sollt ich um deine Lust ein wenig dich verlassen,
Und selbige geniessen ausser dir,
So wär es mir ein Leiden ohne Massen,
Es ist mir alles herb', nur du bist süsse mir;
Dann meine Freude muß in dir bestehen,
Du bist's allein, der mich vergnügt,
Wie kann man ausser dir was schönes sehen?
Dann nur in dir allein die wahre Wollust liegt.

Weil du kannst in dir selbst aufs höchst vergnüget leben,
Wem solltest du dann nicht genugsam seyn?
Du läßt, so groß du bist, die Güte ob uns schweben,
Wer fänd' nicht seine Lust in dir allein?

aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beföfderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Erster Theil Frankfurt und Leipzig 1802 (S. 126-127)

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Sinnbild L.
Wo Liebe dich genommen ein,
Kann keine Knechtesfurcht mehr seyn.

Vollkommne Liebe macht die Furcht vom Herzen weichen,
Sie bläst dergleichen Meynung ein,
Dem, der vollkommen liebt und rein,
Daß keine Furcht nicht mag der Seelen Grund erreichen.

Gewiß ist, daß die Furcht entstehe vom Mißtrauen,
Wann man vom Glauben ist erfüllt,
Fürcht man sich nicht, und ist gestillt;
Glaub' und Vertrauen muß auf reine Liebe bauen.

Die Liebe stehet hoch, die starken Muth einsenket,
Und reiche Gaben giebt
Dem Herzen, das da liebt,
Und ihm auch Stärke schenket.

Das Herz ist Großmuth voll, die Seele hoch erhaben,
Und keine Furcht ist hie,
Freygebigkeit will sie
Vor allen andern haben.

O Liebe, Gotteslieb'! du wollest Raum mir schenken,
Weil, wann das Herz in Weite ist,
Dasselbe allezeit vergißt
Nach niedern Dingen sich zu lenken.


aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beföfderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Erster Theil Frankfurt und Leipzig 1802 (S. 150)

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XXXVIII.
Der Eisvogel: Sinnbild des Herzens welches allein in Gott ruhet.
Mel. Herr Jesu du wahrhaftig Licht.

Der Alcion baut in der Fluth
Sein Nest auf wilden Meereswellen:
Er fürchtet nicht der Stürmen Wuth,
Die seine Ruhe nimmer fällen;
Wann gleich des Meeres tiefer Schlund
Versenket Schiff und Mann in Grund.

Er trägt den Jungen Speise zu,
Die er versorget und beschützet:
Da finden sie die süsse Ruh,
Wann alles kracht, erbebt und blitzet;
Sie leben in Zufriedenheit,
Wann Meer und Himmel ist im Streit.

So gleicht das Herz dem kleinen Nest,
Wann es mit Gott vereinigt bleibet,
Und ihm sich völlig überläßt,
Ja Furcht und Sorge von sich treibet:
Dann jauchzet es vor Fröhlichkeit,
Bey Sturm und Blitz, und finstrer Zeit.

Wann aller Feinden Höllenwuth
Den Drachengift wie Ström' ausspeyen,
So bleibt die Seele wohlgemuth,
Und achtet keine Qual noch Dräuen:
Ja in der Höll' und in dem Tod,
Bleibt sie vereint mit ihrem Gott.

Der Alcion sein Nest verwahrt,
Daß Meeresfluthen nicht eindringen:
So machts der Glaub' mit Lieb' verpaart,
Wann Trübsal mit der Seele ringen;
Dann er läßt nicht ins Herz hinein
Verlangen, Süßigkeit noch Pein.

Sie ist in ihren Gott verliebt,
Bleibt fest in ihrem Centrum stehen,
Ob ihr gleich alle Hülf zerstiebt,
Und alles will zu Grunde gehen,
Dann bleibt sie unbeweglich fest,
Wie Alcion in seinem Nest.

Wann wir still in Zufriedenheit
Nichts achten, wollen, noch verlangen,
Als was Gott will zu jeder Zeit,
Wird unser Herz mit Freud umfangen:
Dann bleibt der Friede unverrückt,
Wann Sturm und Wetter niederdrückt.

Verlassen wir die Übergab',
So wird das Nest bald überschwemmet;
Wir taumeln, beben, weichen ab,
Und werden von der Ruh getrennet,
Dann sinket unser Friedenshaus,
Und fällt in Grund, zerstört in Grauß.

O wüßte man die Seligkeit,
Die in der Übergab zu finden.
Allein, ach! die Kleinmüthigkeit
Macht, daß wir sie gar nicht ergründen!
Sobald ein Windchen nur entsteht,
Erblaßt das Herz, der Muth entgeht.

Erhebet dann den matten Geist,
Obgleich die wilden Wellen toben!
Hinauf, zu Gott, wann alles reißt.
So laßt uns ihn unendlich loben:
Ja laßt uns weichen keinen Schritt,
Wann Tod und Hölle auf uns tritt.


aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beföfderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Zweyter Theil Frankfurt und Leipzig 1803 (S. 78-79)

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L.
Glückseligkeit einer vernichteten Seele.
Mel. Die Liebe regieret

Glückseliges Leben, wer in dem Nichts ruht!
Man bleibt übergeben dem ewigen Gut:
Man lebt vergnügt in allem wie's Gott fügt.

Das Herz ist im Frieden, wann alles gebricht,
Es bleibt ungeschieden vom ewigen Licht,
Sieht nur auf Gott im Leben und im Tod.

Gefängniß und Bande, beschwert nicht das Herz,
Schmach, Armuth und Schande bringt ihm keinen Schmerz.
Es folget nur der heil'gen Liebe Spur.

Glückseliges Wesen das man im Nichts findet!
Im Kreuz auserlesen, im Frieden gegründt;
Ruh ist der Ort, das Nichts ist dessen Pfort.

aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beföfderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Zweyter Theil Frankfurt und Leipzig 1803 (S. 102)

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LVIII.
Innerliches Stillschweigen der Seele
in der Gegenwart Gottes.
Mel. O Durchbrecher aller Banden.

Weg ihr stürmische Gedanken,
Häufet nicht mein Herzeleid;
Haltet euch vielmehr in Schranken,
Eure Plag mein Herz durchschneidt.
Der Betrug der euch begleitet,
Und die Einbildung verführt,
Meine Seele oft bestreitet,
Wenn der Feind den Grund aufrührt.

Ihr Geschäfte, fremde Sachen,
Ihr Gedanken wilder Fluth,
Sollet mich nicht irre machen;
Stillet, stillet eure Wuth!
Euer Toben macht mich leiden,
Ihr gehört nur in die Welt:
Das Andenken muß man meiden,
Weil's der Seelen Flug aufhält.

Du Einbildungskraft-Geschäfte,
Sollst in mir ganz stille seyn;
Und ihr jede Seelenkräfte,
Sinket all in Ohnmacht ein;
Schweiget still ihr meine Sinnen,
Störet nicht die sanfte Ruh,
Laßt mich seyn versammelt drinnen;
Augen, Ohren schließt euch zu.

Lasset mich in Ruh geniessen,
Gottes süße Gegenwart:
Wie sanft thut die Gnade fliessen,
Wann in Ruh man Gott abwart.
O wie sanft ist hier die Sprache
Des Gottworts im tiefen Grund,
Und wie lieblich innigst nahe,
Macht er sich der Seelen kund!

Drum Vernunft laß dich nicht hören,
Schweig, bet' an, und werde stumm;
Laße dich von Gott belehren
Hier im dunkeln Heiligthum:
Der Verstand, die Ruhe spüret,
Sein Verstehen höret auf;
Die Begierden man verlieret,
Weil man hemmet ihren Lauf.

Hier der Geist sich haltet stille,
Stets anbetet und beschaut;
Höchst geschmeidig wird der Wille,
Sinkt im Nichts, auf Gott nur baut:
O wer könnte recht aussprechen
Das Wohl das dem Herz zufließt!
O Vortheile nicht zu rechnen,
Selig wer euch stets genießt!

Jetzt kann Gott sich ganz einsenken,
In die rein gewordne Braut;
Gänzlich thut er sich ihr schenken,
Ja sie wird mit ihm vertraut:
Er thut sich ihr offenbaren,
Sie wird nun in Gott gelehrt,
Er gibt ihr da zu erfahren,
Was kein menschlich Ohr gehört.

Hier die Seele die geschieden
Von dem schnöden Ich und Mein,
Voll Vergnügen, Freud und Frieden,
Mit Gott handelt ganz allein;
Er in ihr sich süß ergötzet,
Sie in ihm verwandelt wird;
Er an seinen Tisch sie setzet,
Und wird göttlich da bewirth.

Nun genießt sie ohn' Betrüben,
Ungestört das höchste Gut;
Ja sie kann nichts thun als lieben,
Ewig brennet ihre Gluth:
Sie fühlt hier in ihrem Herzen,
Wegen Widerwärtigkeit,
Keine Unlust, Last noch Schmerzen;
Nichts stört sie zu solcher Zeit.

Sie bleibt ganz verschlungen stehen,
Im Bewundern dieser Gnad;
Sie kann ihn in allem sehen,
Was nur immer Wesen hat:
Ja für alles und in allem,
Wie Gott nur mit ihr verfährt,
Dankt sie ihm mit Wohlgefallen;
Seinem Willen sie verehrt.

Aber wann dieß soll geschehen,
Daß sie Eins mit Gott mög seyn,
Muß der Geist gereinigt stehen,
Hell und lauter, sauber, rein;
Weil das allerhöchste Wesen
Höchst unendlich, heilig ist:
O wie rein und auserlesen
Ist die Braut die er erkießt!

Kein Verstand kann nimmer fassen,
Gottes reine Wesenheit;
Du bist über alle Massen
Göttliche Unbildlichkeit!
Wer, wer, kann sie je beschreiben?
Nennen, sagen was sie ist?
O ich will nun ewig schweigen,
Weil du stets bist, der du bist!

O du unumschränkte Größe,
Weiter Raum, o Wesenheit,
Gottheit, undenkbare Blöße,
Nackt und reine Ewigkeit!
Finsterniß thut dich umgeben,
Dunkelheit bedeckt dein Thron;
Dein Glanz selbst raubt oft das Leben,
Wer verträgt ihn? Nur dein Sohn.

O Abgrund den nichts umschränket,
Tiefe die kein Geist erblickt;
Nacht die sich zum Schweigen lenket,
Der Verstand wird hier entzückt:
O! ich muß verstummet stehen,
Wenn ich dich erforschen will;
Wer sich rühmt dich einzusehen,
Der verfehlt sogleich sein Ziel.

Selbst die Engel nicht ergründen
Dieß Geheimniß, was du bist;
Keinen Anfang kann man finden,
Weil er unerforschlich ist:
Wie mehr man sich hier versenket,
Jemehr der Geist sich verliert;
Und wenn das Gemüth nachdenket,
Wird's durch deinen Strahl berührt.

Was der Cherub thut dort oben,
Soll auch hier seyn meine Pflicht;
Dich bewundern, dich stets loben,
Fallen auf mein Angesicht:
Schaut wie sie ihr Antlitz decken,
Weil man dich nicht sehen kann;
Deine Großheit scheint zu schrecken,
Ewig beten sie dich an.

Der hat dich niemals begriffen,
Welcher spricht daß er dich kennt;
Der allein kann dieses prüfen,
Dessen Herz aus Liebe brennt:
Oft formt man sich in Gedanken
Falsche Bilder, falscher Wahn;
Einbildung bleib in den Schranken,
Schweige still, und bete an!


aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beföfderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Zweyter Theil Frankfurt und Leipzig 1803 (S. 115-119)

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LIX.
Die wahre Gottesverehrung bestehet in der Liebe.
Mel. O Durchbrecher.

Höchster Ursprung meiner Seele, von dem alles Wesen fließt!
Du wirst nicht als Gott behandelt, du, der du unendlich bist!
Niemand brennt von deinen Flammen, welche rein und heilig sind:
Sende dein Feu'r, und verzehre was in uns unlauter ist.

Denn obschon man dich anflehet, ist es nur aus Eigennutz;
Nur die Huld, die du gewährest, bleibet uns dabey bewußt!
Niemals ist es deine Ehre, die man rein und allein sucht;
Was uns allein sollt bewegen, ferne von dem Herzen bleibt.


Deine Ehre thut man schänden durch Sünd, Lster ohne Scheu;
Oder man thut sich verblenden mit Andachtsschein, Heucheley;
Auch die Tugend die man wählet, Selbstgesuch ist, Eigenheit;
Alle Übung die man liebet, wird durch Eigenwill erdacht.

Dieser Dienst kann nicht gefallen meinem König, Bräutigam,
Er ist seiner ganz unwürdig, weil er rein und heilig ist:
Ach! wenn wird man dieß verstehen, daß Gott ist ein reiner Geist,
Der Herz, Seele ganz durchdringet; all's vor ihm entwickelt steht?

Wo ist jetzt auf Erd zu finden Herzenseinfalt, Lauterkeit?
Wo Verlangen nach dem Leiden, wahre Liebe und Sanftmuth?
Aus den Herzen ist verschwunden des Gewissens Heiterkeit;
Dessen Ruh und süsser Frieden selten jetzt erfahren wird.

Anstatt dieser hohen Gnade die nur ächte Tugend zeugt,
Und die in dem innern Leben jeder auch erlangen kann:
Jetzt die Frömmigkeit bestehet aus Verwirrung, Prahlerey;
Jeder lauft, rennt nach Gutdünken, schreibt und spricht aus Eigensinn.

So zu dienen nur in Worten, ohne daß das Herz einstimmt,
Ist ein Heucheldienst, und nichtig: Gott will unser ganzes Herz,
Das ihn liebet und anbetet: dieses ist ein Gottesdienst,
Welcher würdig ihn verehret; Heucheldienst verspottet ihn.

Es ist wahr, o Gott der Liebe! was man liebt, anbetet man,
Findet tausend Lustergötzen im Geliebten, den man ehrt!
Wahrlich lieben und anbeten können nicht getrennet seyn:
Wer nicht Gott von Herzen liebet, betet keineswegs ihn an.

aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beföfderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Zweyter Theil Frankfurt und Leipzig 1803 (S. 119-120)

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LXXVII.
Das All Gottes und das Nichts der Menschen.
Mel. Zuletzt gehts wohl dem.
Oder: Ich sehe dich o Gottesmacht.
Oder: Wie schön bist du, mein Leben und mein Licht.

O Majestät! o allerhöchstes Wesen,
ewiglich regiert die ganze Welt!
O alles, was jetzt ist, und je gewesen,
Verschwindt vor dir, vergehet und zerfällt!

Die Berge, die du aus dem Nichts gezogen,
Mit Rauch und Dampf zerschmelzen, sind verbrannt,
Und fliessen hin, gleichwie die Wasserwogen,
Wenn sie berührt die Allmacht deiner Hand!

O grosser Gott, o aller Wesen Quelle!
Es ist ein Nichts, was ausser dir besteht;
Du schaffest sie, dann lassen sie die Stelle:
Was du nicht bist, ist nichtig und vergeht.

Des Himmels Pracht, die Schönheit dieser Erden,
Umfaßt dein All, und schließt es in sich ein.
Wirkt dein Fiat, so muß geschaffen werden,
Wenn deine Macht will Herr und Meister seyn.

Dein Fiat hat die Welt so schön formiret,
Und wenn du willst, wird sie im Augenblick
In Staub und Nichts zerstört und eingeführet:
Dein Wille macht und ordnet ihr Geschick.

Du bist es ja der zu dem Mose sprache:
"O Majestät! Ich bin der, der ich bin,
Der starke Gott, der ich nach niemand frage,
Wer hat jemals erforschet meinen Sinn?

Nichts ausser mir kann seyn, noch mag bestehen:
Die Seele muß mir unterworfen seyn
Zur bösen Zeit, so wie im Wohlergehen,
Mir, ihrem Herrn und Schöpfer, ganz allein!

Ich will nicht mehr von Creaturen leiden,
Die gar nichts sind, als was sie sind durch mich,
Daß sie besteh'n in Formen, Eigenheiten,
Auf sich selbst seh'n, und alles thun für sich.

Der Mensch kann nicht von Thorheit je genesen,
Er ist ein Nachts, Lügen und Eitelkeit.
Ich bin das All, das Wesen aller Wesen,
Gerechtigkeit, Kraft, höchste Allwahrheit.

Das All vom Nichts unendlich weit geschieden,
Und doch geschiehts durch meine höchste Gnad',
Daß ich sie fest vereinige im Frieden,
Dann preist das Nichts, und singt ein Loblied ab.

Das Nichts darf nicht sich dessen überheben,
Es kommt allein von meiner Gütigkeit:
Vielmehr sollst du mir Lob und Ehre geben,
Im Friede ruh'n in deiner Nichtigkeit.

O Nichts, o Nichts, es schmerzet mich zu sehen,
Daß als ein Nichts, du darfst noch rühmen dich,
Kein eignes Gut hast du, dich aufzublähen!
Drum lobe stets und preise ewig mich.


aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beföfderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Zweyter Theil Frankfurt und Leipzig 1803 (S. 147-149)

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XCVII.
Die reine und starke Liebe.
Mel. Das ist die allerschönste Lust.

Glückselige Zufriedenheit,
Daß meine Liebe jederzeit
Allein auf meinen Gott gericht:
Das andre acht ich nicht!

Die reine Liebe hat kein Ziel,
Das ganze Herz sie haben will;
Getheiltes Herz ist ihr zur Last,
Der Eigennutz verhaßt.

Sie achtet Tod und Leben nicht,
Höll', Himmel giebt ihr kein Gewicht:
Was Gott nicht ist, ist nur ein Tand,
Der Liebe nicht bekannt.

Sie selbst an allen Orten gleich,
Ist Seligkeit und Himmelreich,
Dem Herzen, das recht opfern kann,
Giebt alles willig dran.

aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beföfderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Zweyter Theil Frankfurt und Leipzig 1803 (S. 181)

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CLXXXVI.
Heilige Unempfindlichkeit der vollkommenen Liebe.
Mel. Du meiner Augen Licht.

Ich liebe meinen Gott
Unendlich mehr als ich mich selber liebe,
Und fühle doch nicht meiner Liebe Triebe:
Der Mensch, wann er am Ende durch den Tod
Verloren ist, und in Gott selbst versenket,
So kennt und weiß er nicht, ob's Nacht ist oder Licht:
Er ist ein Nichts das Gott bewegt und lenket.

Wer seine Liebe noch
Selbst unterscheid't, und sie in sich empfindet,
Ist weit entfernt, daß wahre Lieb' ihn bindet,
Er kennet nicht, das reine Liebesjoch,
Ja er besitzt sich selbst und kann sich rathen,
Er heget sicherlich noch Eigenlieb in sich,
Und liebet nur in Worten, nicht in Thaten.

O heil'ge Liebesgluth,
Die uns zerstört, und uns in dich verlieret,
Und in das Nichts uns durch den Tod einführet,
Uns überformt in Gott das höchste Gut;
Du thust uns von uns selber ganz entkleiden,
Und machest, daß wir seyn einfältig, beugsam, klein,
So daß man sonst nichts mehr kann unterscheiden.

Die Zahl ist allzu klein,
Die selber sich verlassen, aus sich gehen:
Man schonet sich, will in sich selbst bestehen,
Und doch dabey Gott finden: aber nein!
Ein reines Herz liebt Gott und thut sich hassen,
Sein Aug ist niemals nicht auf Eigennutz gericht:
Es muß für Gott die Liebe selbst verlassen.

O Liebe, du allein,
Kannst dieses Herz mit treuer Liebe binden,
Das undankbar, und allzeit will empfinden!
O Liebe gib, daß unsre Liebe rein,
Und daß wir dir in nichts mehr widerstreben,
Auch allem sterben ab, und ruhen in dem Grab!
Du kannst uns dieß, o reine Liebe geben!

Dann ohne diesen Tod
Kann man nie in das neue Leben gehen:
Wann man nicht mehr will in sich selbst bestehen,
Sich selbst verläßt, so findt man sich in Gott:
Der eigne Geist, das Fleisch macht daß wir bleiben
Fast alle in dem Weg; man fürcht den Todessteg;
O Liebe du kannst diese Furcht vertreiben.

aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beföfderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Zweyter Theil Frankfurt und Leipzig 1803 (S. 331-332)

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CLXXXVII.
Die Gott liebende Seele will nur von Liebe reden
und schreiben, in welcher sie allein lebet und schwebet.
Aufforderung an alle Kreaturen, ihren Schöpfer
durch die Liebe zu loben und zu verherrlichen.
Mel. Du liebe Unschuld du.

Ach! ich verstumme gar, und schweige lieber still,
Als daß ich nicht allzeit von Liebe sprechen will!
O Glück! wann ich im Joch der reinen Liebe lebe,
Und durch den Martertod mich ihr zum Opfer gebe!

Man wirft mir vor und spricht: du redest allezeit
Von reiner Liebe nur, von ihrer Lieblichkeit!
O Lieb' hier wallt man schon mit dir in Ruh und Weiten,
Ach, laß mich deinen Preis bey jedermann ausbreiten!

Ja, laß unendlich mich besingen deinen Ruhm,
Du bist mein Glück und Heil, und ich dein Eigenthum:
Die Liebe kann allein mein Herz mit Lust vergnügen,
Das andre allzumahl ist fremd, kann mir nicht fügen.

Die Liebe ganz allein besitzt mein Herz und Geist,
Sie ist ihr selbst genug, die alles in sich schleußt:
Durch sie kann ich in Ruh in Gott verlohren schweben;
Wann ich nicht lieben soll, so kann ich auch nicht leben.

Gebricht die Liebe mir, so hab' ich auch kein Herz,
Ich sink in Ohnmacht hin, vergeh in meinem Schmerz:
Die Liebe macht mir Qual, die Liebe macht mir Freuden,
Sie ist mir Seligkeit, sie ist mir Schmerz und Leiden.

O göttlich reine Lieb', mein einzig höchstes Gut!
Wirst du gestatten, daß man mir den Mund zuthut?
Ich bin dein Eigenthum, so wirst du mich auch schützen,
Und aller Welt zum Trotz mich kräftig unterstützen.

Laßt rauben Ehre, Gut, die Freyheit, was es sey,
Ja alle Freunde und das Leben selbst dabey;
So bin ich doch vergnügt, wann mir die Wahrheit bleibet,
Dann solche Kümmerniß, und Unruh ganz vertreibet.

O keusch und reine Lieb', willst du so kann's gescheh'n,
Daß meiner Lieder Schall in alle Welten geh'n:
Laß meine Harfen Klang die Herzen all entflammen;
Zum reinen Opfer dir, sich schenken allzusammen.

Auf! Liebe lasse mich an Himmel deinen Glanz
Beschreiben, daß dein Strahl sein Licht verdunkle ganz!
Ja gehe daselbst auf als eine helle Sonne,
Die uns bringe den Tag der Ewigkeit und Wonne!

Ich will, o Liebe, dich einschreiben auf die Nacht,
Zu leuchten, helles Licht, mit Majestät und Pracht,
Daß alle Finsterniß und Dunkelheit verschwinde,
Ja daß der Liebe Kraft die Herzen all entzünde.

Die Schrift auf dieser Nacht soll ganz von Feuer seyn,
Damit durch ihre Gluth, durch ihren hellen Schein,
Für meinen Gott entzündt, verbrannt, verzehret werde,
Der weite Himmelskreis, zusammt der ganzen Erde.

Und du, o wildes Meer, furchtbarer Ocean,
Du sollst der Liebe Schrift nun werden unterthan;
Ich will die Lieb' in dich, in deine stolze Wellen,
Einschreiben, sie kann dich in ihre Fessel stellen.

Ich will, o Liebe, dich eingraben deinen Strahl,
An allen Orten, und in Felsen, Berg und Thal,
Daß man dein Siegspanier soll eingepräget finden,
In jeder Kreatur, in Höhlen, und Abgründen.

Ich will dich brennen ein, mit Strahlen, Feu'r und Blitz,
Daß du in jedem Herz mögst haben deinen Sitz:
Und also wird mein Geist die höchste Freude finden,
Die Seelen allzumahl in Liebe zu entzünden!

Ja in die Hölle selbst will ich mich senken ein,
Ausrufen Tag und Nacht: die reine Lieb' allein
Kann enden eure Qual, euch aus der Marter bringen,
Wann ihr nur fähig seyd, daß Lieb' euch möcht durchdringen.

Die Liebe würde gar das ganze Höllenhaus
Zerstören, und euch selbst ausführen aus dem Graus:
Wann euer Haß sich nur in Liebe könnt einführen,
So würde in der Höll' der Friede triumphiren.

So lang in dieser Zeit der Athem aus mir geht,
Will ich ohn Unterlaß der Liebe Majestät
Besingen, ihren Preis und ihren Ruhm erheben,
Daß alle Herzen sich der Lieb' zum Opfer geben.

Allein, o reine Lieb', man hemmet meine Stimm,
Die Menschen allzumahl bestreiten dich im Grimm!
Sie wollen nichts von dir, o reine Liebe, hören,
Doch deine Allmacht kann und wird sie bald zerstören.

Mein Reden, mein Gesang muß bleiben eingestellt,
Es streitet wider mich das Toben aller Welt;
Ein jeder hasset mich, sucht mich in Furcht zu setzen:
Der Donner ist mir lieb, was kann mich dann verletzen?

Wann Liebe für mich streit, verlach' ich jedermann,
Weil Liebe mein Panier, und mich wohl schützen kann:
Ihr Wölfe allzumahl, kommt her, sperrt auf den Rachen,
Mein Herz soll eure Wuth nur als ein Spiel verlachen!

Wer lieben recht gelernt, leid't gern, mit Zuversicht,
Das Drohen, alle Qual, die Marter schreckt ihn nicht:
Man stellt sich freudig dar den Übeln allzusammen,
Nicht aus Verwegenheit, wohl durch der Liebe Flammen.

Der reinen Liebe Macht, der Wahrheit Ewigkeit
Verschlinge mich in sich in Einheit jederzeit;
Ach, daß ich tief versenkt und ganz verloren bliebe,
Im großen weiten Meer der reinen Gottesliebe!


aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beföfderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Zweyter Theil Frankfurt und Leipzig 1803 (S. 333-336)

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CLXXXVIII.
Die verliebte Seele will von nichts als von der Liebe wissen.
Ihre beständige Liebessprache.
Mel. O Durchbrecher aller Banden.

Ach! nur von der reinen Liebe kann ich reden sonst von nichts.
Ich will lieber gänzlich schweigen: o wie selig werd' ich seyn,
Wenn mein Herz in Liebe lebet, stets ihr unterworfen bleibt,
Sollt es mir das Leben kosten, selig wär das Marterthum!

Daß ich stets zu allen Zeiten nur von Liebe reden kann,
Daß ich ihren Ruhm besinge wirft man mir gar öfters vor:
Aber meine Lust und Freude ist, daß ich bey jedermann,
Der mir nahet, von ihr rede, und von ihrer Reinigkeit.

Meine Lieb' ist meine Wonne! ich besing' ohn' Unterlaß
Ihren Ruhm und ihre Siege, daß ich so glückselig bin:
Liebe nur kann mich vergnügen, Liebe ist mein Himmelreich,
Ohne Liebe ist mir alles fremd und widrig und zur Last.

Liebe, die mein Herz besessen, mein Verstand ihr Eigenthum:
Liebe ist sich selbst genugsam, sie bedarf kein fremdes Gut.
Mein Heil, Reichthum, meine Wonne schließt sie alles in sich ein:
Ohne sie kann ich nicht leben: Liebe ist mein Heiligthum.

Liebe macht mir Freud' und Wonne; Liebe macht mir Pein und Schmerz;
Liebe schaffet mir Vergnügen; Liebe legt mir Leiden auf:
Ohne sie hab' ich kein Leben, kein Vergnügen und kein Herz,
Ohne diese reine Liebe sink' ich bald in Ohnmacht hin.

Göttlich reine starke Liebe, du allein mein höchstes Gut,
Willst du es geschehen lassen, daß man mir den Mund zuschließt?
Liebe, ach! sey meine Stütze wider aller Menschen Trotz:
Denn du bist allein, o Liebe, die mein Herz rührt und besitzt.

Ach, man raube mir nur alles, Freyheit, Güter, Ehr' und Glück,
Ja auch alle meine Freunde, und das Leben selbst darzu;
So wird dennoch mich vergnügen deine Wahrheit ganz allein;
Frey von Unruh', Qual und Sorgen werd' ich in der Liebe seyn.

Keusche reine Gottesliebe, wenn du es gestatten wolltst,
Könnt'st du dich durch mich fortpflanzen in den Herzen allzumal:
Wenn ich von der Liebe schreibe, und besinge ihren Preis,
So verschaffe du, o Liebe, daß es in die Herzen dringt.

Liebste Liebe, ich will schreiben deinen Ruhm ins Firmament;
Liebe, daselbst sollst du glänzen als der Sternen Licht und Pracht:
Ich zeichne dich allenthalben auf die Finsterniß der Nacht,
Und auf ihre dunkle Schatten, wo du dich sehr oft verbirgst.

Ja ich will die Liebe zeichnen feurig strahlend auf die Nacht,
Durch das Licht, Glanz, helles Blitzen dieser feuervollen Schrift
Will ich machen, daß der Himmel samt der Erde brennen soll,
Alles soll verzehret werden Gott zum Preiß, Ruhm, Herrlichkeit.

Prächtig Meer, auf deine Wellen, und derselben Flüßigkeit,
Auf dein schreckenvolles Toben, und auf deiner Fluthen Lauf
Will ich meine Liebe schreiben: denn ihr unumschränkte Macht
Kann sich in dich wohl eingraben, hemmen deinen Unbestand.

Ich will dich, o liebste Liebe, in die Felsen graben ein;
Auf die Steine, Hügel, Berge. Ja in allertiefsten Schlund
Unermeßlicher Abgründen will ich dich und deinen Preiß,
Und die Wunder reiner Liebe ausposaunen überall.

Reine und vollkommne Liebe zeichne ich in Geist und Herz:
Ja mit Licht- und Feuerflammen, will ich dich da brennen ein
Jauchzend fröhlich, mit Vergnügen wird mein Geist erfüllet seyn,
Wenn ich dich, o reine Liebe, grabe in die Seelen ein!

In die Hölle will ich steigen, um zu schreyen Tag und Nacht:
Höret! merkt der Liebe Wunder, die euch würde eure Pein
Bald abnehmen, wenn ihr möchtet ein'ger Liebe fähig seyn!
Wenn in Lieb' ihr könnt verwandlen eure Feindschaft, Haß und Grimm!

Ich will alle Zeit besingen, wenn noch Athem in mir bleibt,
Deinen Ruhm, o reine Liebe, deine Großheit, Wunderkraft:
Ja ich will so groß dich zeigen, daß die Herzen angeflammt,
Und verlangen deine Sclaven nun und ewiglich zu seyn.

Aber, ach! ich soll ja schweigen, habe keine Stimme mehr:
Alle Menschen, allenthalben sind verschworen wider dich;
Liebe! sie sind deine Feinde, alle streiten wider dich;
Doch du kannst sie niederschlagen schnell durch deine Gotteskraft.


Reden wird mir gar verboten, und mein Singen wird gehemmt,
Alle rotten sich zusammen, um zu streiten wider mich,
Jeder sucht mich abzuschrecken: doch was sollt' ich fürchten noch,
Da den Donnerstrahl ich liebe? Marterthum erschreckt mich nicht!

Ist die Liebe mein Beschützer, so verlach' ich iedermann:
Weil dann Liebe mich begünstigt, Liebe mir zum Erbtheil ist;
So mag dann der Wölfe Rotte auf mich speyen Gift und Wuth:
Kommt nur! ich werd' eurer spotten, ihr werd't mir ein Spielwerk seyn.

Wer in reiner Gottesliebe unbeweglich ist gegründt,
Wird so willig leiden können, ohne Furcht vor Peinigung,
DAß er sich zu allen Qualen selbst mit Willen bietet dar:
Jedoch bloß aus wahrer Liebe, nicht verwegen, noch aus Trotz.

Allerhöchste reine Liebe, Wahrheit die unendlich ist!
Ihr durchdringet, ihr erfüllet meine ganze Seel' und Herz;
Könnt' ich doch die Seel' aushauchen, um in eurer Einheit mich
Zu verlieren in den Flammen dieses weiten Oceans.


aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beföfderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Zweyter Theil Frankfurt und Leipzig 1803 (S. 336-339)

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CXCIII.
Die unbekannte reine Liebe: Seligkeit denen
die sich ihr widmen.
Mel. Herrlichkeit Majestät, himmlisches Wesen.

Spricht man nicht, daß mein Herz, Geist, und das Leben,
In reiner Liebe auf Gott ist gericht,
Daß all mein Wünschen, Verlangen, Bestreben
Sich Gott zum ewigen Opfer verpflicht?
Liebe ist Weyrauch, das Himmelwärts steiget:
Gott ist die Liebe, ihr Menschen drum schweiget!

Wollt ihr dann murren, und schelten, und schreyen?
Wisset ich acht es nicht: Gott ist mein Heil!
Wann er mein Seufzen läßt vor sich gedeyen,
Bin ich zufrieden, weil Liebe mein Theil;
Friede und Wonne genieß ich vor allen,
Jetzo der übrigen Welt zu mißfallen.

Reineste Liebe, ja heilige Flammen,
Die ihr gar selten und wenig bekannt!
Kennte man euch recht, die Menschen zusammen,
Würden beneiden den seligen Stand,
Den mir, und alles die Liebe geschenket,
Und mich durch Frieden in Gott hat versenket.

Alle die diese Glückseligkeit kennen,
Würden entzündet mit liebendem Schmerz
Eifrig der heiligen Liebe nachrennen,
Und ihr aufopfern Geist, Leben und Herz.
Wie würd' ich dann seyn entzücket für Freuden,
Daß sie in Wollust der Liebe nun weiden.

aus: Der gottseligen Frau La Mothe Guyon geisterhebende Beschäftigungen
des Herzens mit Gott durch die lebendige Erfahrungs-Erkenntniß
der göttlichen Liebe.
Auszüge aus sämmtlichen poetischen Schriften der seligen Frau,
zur Beförderung des inneren Lebens.
Durch G. Teerstegen und andere ins Deutsche übersetzt.
Zweyter Theil Frankfurt und Leipzig 1803 (S. 345-346)

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Biographisches:

Guyon, Jeanne Marie Bouvier de la Mothe-G., franz. Mystikerin, 13. 4. 1648 Montargis/Loiret - 9. 6. 1717 Blois. 28jähr. Witwe, lebte seitdem ganz ihrer im wesentl. am Quietismus orientierten Mystik; in deren Dienst ausgedehnte schriftsteller. Tätigkeit, bes. geistl. Dichtungen. Mit Fénelon verbunden, der sie gegen Bossuet verteidigte. Nach Sturz Ludwigs XIV. mehrere Jahre in der Bastille.

WERKE: Poésies spirituelles, V 1685; Moyen court et très facile de faire oraison, 1688 (d. 1740); La vie de Madame Guyon, écrite par elle
même, 1720 (d. 1826) - OEuvres complètes, hg. H. Poiret XXXIX 1713-32, hg. Du Toit Marmerini XL 1790.

aus: Autorenlexikon: Guyon, Jeanne Marie Bouvier de la Mothe-G., S. 1. Digitale Bibliothek Band 13: Wilpert: Lexikon der Weltliteratur


siehe auch: http://de.wikipedia.org/wiki/Jeanne_Marie_Guyon_du_Chesnoy


 

 

 


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