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Sinaida Hippius
(1868-1945)
russische Dichterin
Elektrizität
Zwei Drähte sind verschlungen,
Die Enden sind entblösst;
Drin "Ja" und "Nein" bezwungen
Noch ruhen unerlöst.
So eng ist ihre Nähe,
Blind schmiegt sich Draht an Draht;
Doch fruchtbar wird die Ehe
Und die Erlösung naht.
Berühren sich die Enden, -
Erwachen "Ja" und "Nein",
Verschmelzen und verenden
Und ihre Strahlen blenden:
Ihr Tod - ist Sonnenschein.
Aus: Russische Lyrik der Gegenwart
Deutsch von Alexander Eliasberg [1878-1924]
Mit einer Einleitung und vier Bildnissen
München und Leipzig R. Piper & Co Verlag 1907 (S. 99)
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Wenn . . .
Wenn du weissen Schnee nicht liebst,
Weil er kalt ist ewiglich, -
Ja, dann liebst du auch nicht mich,
Wenn du weissen Schnee nicht liebst.
Wenn du anders bist als ich, -
Bleibt verschlossen uns SEIN Schoss,
Unerfüllt das höchste Los,
Wenn du anders bist als ich.
Wenn ich anders bin als du, -
So zerstieb ich ohne Spur,
Wie der Nebel auf der Flur,
Wenn ich anders bin als du.
Und erreichen wir IHN nicht,
Eng verschlungen und vereint.
Wenn SEIN Licht uns nicht erscheint,
Und erreichen wir IHN nicht, -
Dann ist noch nicht unsre Zeit,
Dann sind wir noch nicht bereit
Und nicht reif noch für SEIN Licht
Und SEIN strahlend Angesicht.
Aus: Russische Lyrik der Gegenwart
Deutsch von Alexander Eliasberg [1878-1924]
Mit einer Einleitung und vier Bildnissen
München und Leipzig R. Piper & Co Verlag 1907 (S. 100)
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Lied
Mein Fenster liegt über der Erde hoch oben,
So hoch da oben!
Ich seh' nur das glühende Abendrot droben,
Am Himmel droben.
Der herbstliche Himmel ist farblos und öde,
So bleiern und öde,
Er kennt keine Gnade, ist lieblos und spröde,
So gnadenlos spröde.
So gross ist die Sehnsucht, in der ich verbrenne,
Immer verbrenne!
Ich strebe nach etwas, das ich gar nicht kenne,
Nicht kenne . . .
In brennender Sehnsucht die Tage verstreichen,
Zerrinnen, verstreichen;
Die Seele erwartet ein Wunder, ein Zeichen,
Ein Zeichen!
Was unmöglich ist, das soll jetzt geschehen,
Muss jetzt geschehen:
Ich will es vom lieblosen Himmel erflehen,
Ich werd' es erflehen!
Ich denk' an den Schwur, der gebrochen, vergessen,
Der falsch und vergessen;
Ich strebe danach, was noch niemand besessen,
Kein Mensch noch besessen!
Aus: Russische Lyrik der Gegenwart
Deutsch von Alexander Eliasberg [1878-1924]
Mit einer Einleitung und vier Bildnissen
München und Leipzig R. Piper & Co Verlag 1907 (S. 101-102)
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Nie
Still schwebt der verblassende Mond in der Höh' . .
Ich fliege im Schlitten auf knirschendem Schnee.
Es führt mich die Reise dem Monde entgegen,
Ich starre ihn an und er lächelt verwegen.
Ein seltsames Wörtchen kam mir in den Sinn,
Ich spreche die Silbe ganz leis' vor mich hin.
Das Mondlicht wird trüber, der Osten wird heller,
Es rennen die Pferd noch wilder und schneller.
Es rüttelt der Schlitten, es beben die Knie,
Ich starr' in die Ferne und stammele: "Nie!" . .
Du seltsame Silbe, da bist du schon wieder!
Doch du bist es nicht, was mir lähmt meine Glieder
Und ängstigt mich, auch nicht des Mondes Gewalt:
Mich ängstigt mein Herz, das so angstlos und kalt;
Es kennt keine Freuden und hat keine Sorgen . . .
Das Mondlicht erblasst und ich ahne den Morgen.
Aus: Russische Lyrik der Gegenwart
Deutsch von Alexander Eliasberg [1878-1924]
Mit einer Einleitung und vier Bildnissen
München und Leipzig R. Piper & Co Verlag 1907 (S. 103)
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Begleite mich!
Der welken Lilienblüten schwülen Duft
Fühl' ich um mich, wie eine Wolke schweben.
Die Blumen mahnen mich an Tod und Gruft,
An jene Zeit, da ich nicht mehr am Leben.
Es findet bald mein Herz die ew'ge Ruh',
Es kennt mehr keine Freuden, kennt kein Beben.
Doch meiner letzten Stund' gedenke du,
Begreife mich, wenn ich nicht mehr am Leben!
Ich weiss, mein Freund, es naht die ew'ge Nacht,
Der müde Leib muss sich dem Tod ergeben;
Doch auch im Tod ist gross der Liebe Macht;
O liebe mich, wenn ich nicht mehr am Leben!
Ein sonderbar' Gelübde fällt mir ein,
Es geht danach mein allerletztes Streben:
Auch nach dem Tode bist du ewig mein,
Begleite mich, wenn ich nicht mehr am Leben!
Aus: Russische Lyrik der Gegenwart
Deutsch von Alexander Eliasberg [1878-1924]
Mit einer Einleitung und vier Bildnissen
München und Leipzig R. Piper & Co Verlag 1907 (S. 104)
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Halbwelker Lilien Leichenduft hat kalt
zerstört das Traumreich - all mein Glück hienieden,
Er mahnt mich an des Todes Allgewalt,
an jene Zeit, wo ich dahingeschieden.
Mein Herz erfüllt des Gleichmuts bleicher Strahl,
die Seele schlummert mir in süßem Frieden.
Vergiß nicht meiner letzten Tage Qual -
begreife mich, wenn ich dahingeschieden!
Ich weiß, mein Weg ist kurz; bald ist's vollbracht:
bald wird mein armer siecher Leib ermüden.
Doch wie der Tod ist stark der Liebe Macht!
O liebe mich, wenn ich dahingeschieden!
Dich knüpft an mich geheimnisstark ein Eid,
und täuschen kann mich nun nichts mehr hienieden,
Nie beut die Trennung dir Vergessenheit -
o folge mir, wenn ich dahingeschieden!
Aus:
Russische Dichterinnen. Ausgewählte Dichtungen übertragen
und mit biographischen Notizen versehen von Friedrich Fiedler [1859-1917]
Leipzig Verlag von Philipp Reclam jun. 1907 (S. 56)
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Verzweiflungsschrei
In meiner Brust, der Kräftearmen,
wallt meines wunden Herzens Blut.
Kennt Gott denn wirklich kein Erbarmen?
Kennt Gott den nicht der Liebe Glut?
Gehorsam einem grausen Willen,
wie Schatten, ohne Wunsch und Sinn,
gehn wir des Wegs dahin im stillen -
und wissen selber nicht, wohin.
Die Kreuzesbürde dieses Lebens
drückt schwerer uns mit jedem Schritt,
an Türen klopfen wir vergebens -
da naht des Todes Spähertritt!
Nicht braucht's bei uns der Selbstbemeistrung:
wir tuen nur, was Gott uns heißt.
Beim Schaffen trieb ihn nicht Begeistrung,
drum schuf auch liebelos sein Geist.
Wir fallen, schwach auch im Vereine,
an Wunder glauben kraftlos wir -
und schwer, gleich einem Leichensteine,
drückt uns des Himmels Luftrevier.
Aus:
Russische Dichterinnen. Ausgewählte Dichtungen übertragen
und mit biographischen Notizen versehen von Friedrich Fiedler [1859-1917]
Leipzig Verlag von Philipp Reclam jun. 1907 (S. 56-57)
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Der Morgen umdämmert den Mond in der Höh;
ich fahr ihm entgegen auf knirschendem Schnee.
Ich starr ihm ins Antlitz, es ist wie lebendig
und lächelt mir Antwort gar seltsam verständig . . .
Da spricht die Erinnrung ein grausiges Wort -
und still wiederholt es mein Herz immerfort . . .
Es haucht immer trüber der Mond seinen Schimmer,
die Rosse jedoch jagen rastloser immer.
Mein Schlitten fliegt spurlos. Der Umkreis schweigt leer.
Nur ich seufze laut: Nimmermehr! Nimmermehr! . . .
Bist du dieses grausige Wort, das erschüttert
mein Herz? . . . Nein, vor andrem hat stets es gezittert! . . .
Nicht schreckt mich der Mond, der sich tückisch versteckt . . .
Mich schreckt das Bewußtsein, daß nichts mehr mich schreckt!
Ich fühle, daß fröstelnd mein Herz nicht mehr leidet . . .
Da neigt sich der blassende Mond und - verscheidet.
Aus:
Russische Dichterinnen. Ausgewählte Dichtungen übertragen
und mit biographischen Notizen versehen von Friedrich Fiedler [1859-1917]
Leipzig Verlag von Philipp Reclam jun. 1907 (S. 58)
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Mich quälen keine Zweifel mehr! Mich rettet
vom Tode nichts! Bald ist erreicht das Ziel!
Ich weiß: im Grab, wo man schon bald mich bettet,
da ist es dunkel, stumm und feucht und schwül . . .
Doch in der Erde nicht, - auf Erden bleiben
will ich bei dir - im Wind, im Sonnenstrahl,
im Ocean als blasse Welle treiben,
als Wolkenschatten huschen durch das Tal.
Fremd wird mir sein des Erdenlebens Wonne,
fremd wird mir sein des Erdenlebens Schmerz -
nie weder Lust noch Leiden kennt die Sonne . . .
Mit dem Bewußtsein blick ich sternenwärts.
Ich heische Ruh! . . . Es ruft die Mutter Erde
an ihre Brust, die ewig treue, mich . . .
Ich weiß, daß bald ich frei als Schatten werde . . .
Geliebter, ach, wie selig stirbt es sich!
Aus:
Russische Dichterinnen. Ausgewählte Dichtungen übertragen
und mit biographischen Notizen versehen von Friedrich Fiedler [1859-1917]
Leipzig Verlag von Philipp Reclam jun. 1907 (S. 58)
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Biographisches:
siehe:
http://de.wikipedia.org/wiki/Sinaida_Hippius
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