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Gräfin
Jewdokija Petrowna Rostoptschina
(1812-1858)
russische Dichterin
"Des Lebens Mai blüht einmal – und nicht wieder."*
Wohl viele Jahre schwanden seit der Zeit,
wohl vielmals blühte düftesüß der Flieder
und hört ich neuer Nachtigallen Lieder -
doch stets gedenk ich der Vergangenheit
und wiederhole immer, immer wieder,
den Blick gesenkt in Tränenleid:
"Des Lebens Mai blüht einmal – und nicht wieder."
Geschlossen haben sich für immerdar
die liebeleuchtend seelenvollen Blicke.
Es lockt die Frühlingsnacht mit neuem Glücke -
doch schauen sie mich an so tief, so wahr,
daß ich bekämpfe meines Herzens Tücke
bei ihrer Mahnung, strahlend klar:
"Des Lebens Mai blüht einmal – und nicht wieder."
Wie einstmals singt die Nachtigall ihr Lied,
der Flieder duftet blau und weiß wie immer,
im Gras erflirrt des Maienglöckchens Schimmer,
der Segensstrahl der Sonne hellt und glüht -
nur meine Seele kann erblühen nimmer,
weil ohne Halt das Leben flieht …
"Des Lebens Mai blüht einmal – und nicht wieder."
(S. 11)
* Nach jeder Strophe findet sich dieses Zitat
aus Schiller – deutsch. (F. F.)
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Wir konnten uns nur selten sprechen,
wir konnten uns nur heimlich sehn -
und mußten gleich uns unterbrechen,
um voneinander gleich zu gehn.
Das war ein Harren, was ein Sehnen
durch Stunden, Tage, Wochen gar!
Wie heiß verwünschten unter Tränen
die Welt wir, die so feind uns war!
Die Bräuche dieser Welt und Sitten
beleidigten wir nimmermehr.
Wie haben wir dabei gelitten!
Wie fiel uns die Verstellung schwer!
Kein Ohr vernahm, daß wir uns kannten,
daß wir uns liebten, sah kein Blick …
Allein zu Hause! Wie entbrannten
die Herzen uns im Liebesglück! …
Nun können wir gar oft uns sehen
und sprechen so, wie's uns gefällt,
im Lärm und Lachen uns verstehen -
und lachen ob dem Lärm der Welt.
Nicht mehr errötend, wechseln Blicke
wir ruhig heitren Angesichts,
denn hinter einer Maske Tücke
zu bergen haben wir nun nichts.
Im Auge Ruh, im Herzen Kühle, -
so peinen uns beim Lebensfest
nicht mehr Gedanken und Gefühle, -
des Geistes und der Seele Pest! …
Doch, Gott, wenn diesem kalten Frieden
für eine kurze Spanne Zeit
der wilde Glutsturm wär beschieden
der seligen Vergangenheit! (S. 11-12)
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Der Talisman
Ich habe einen heilgen Talisman,
den ich als höchstes Kleinod mir bewahre.
Im Lebenskampf ist er mir Wehr und Bann,
der Zukunft Pfand, der Trost entschwundner Jahre.
Kein Armband ist's mit seltnem Schloß von Gold,
es ist kein Ring mit zauberhaften Zeichen,
kein Brief mit Liebeseiden ohnegleichen,
kein Stammbuch auch mit Namen lieb und hold
und kein Porträt in selbstgeschnitztem Rahmen …
Doch stets, dank ihm, bleibt meine Seele jung,
und leben mag ich nur in seinem Namen …
Mein Talisman ist – die Erinnerung! (S. 13)
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Biographie:
Nichte des Dramatikers und Lyrikers N. B. Suschkow, wurde am 4. Jan.
1812 / 23. Dez. 1811 in Moskau geboren. 1833 heiratete sie den Grafen A.
F. Rostoptschin, einen Sohn des Moskauer Generalgouverneurs und
Oberkommandierenden (1812). Die Ehe war nicht glücklich. Puschkin,
Shukovskij und Lermontow priesen ihr poetisches Talent. Letzterer
richtete an sie das Gedicht: "Geboren unter einem Sterne". In Rom
schrieb sie 1846 "Die Zwangsehe"; auf Anraten Gogols schickte die Gräfin
die Satire – der die Beziehungen Rußlands zu Polen zugrunde liegen –
nach Petersburg: "man wird sie nicht verstehen und sie abdrucken!" Und
solches geschah in der "Nordischen Biene", wonach die betreffende Nummer
beschlagnahmt wurde. Die Dichterin starb am 15. / 3. Dezember 1858 in
Moskau.
Außer Gedichten verfaßte sie noch die Dramen: "Ein Familiengeheimnis"
und "Die Tochter Don Juans", sowie die Romane: "Palazzo Forli", "Eine
glücklich Frau" und "Am Hafen".
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In der Übersetzung
von Friedrich Fiedler (1859-1917)
Gedichte
und Biographie aus: Russische Dichterinnen. Ausgewählte Dichtungen
übertragen und mit biographischen Notizen versehen von Friedrich
Fiedler.
Leipzig Verlag von Philipp Reclam jun. 1907
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