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Polyxena
Sergejewna Solowjowa
(1867-1924)
russische
Dichterin
Ich harrte dein in
Hoffen und in Bangen,
wie nach dem Frühlicht sich der Kranke sehnt …
Es losch der Tag; der Abendsonne Prangen
hielt fern und nah der Berge Grat umkrönt.
Ich harrte dein … Ich sah die Dämmrung fluten,
rings Frieden streuend, allgemach talein.
In meinem Busen flammten Liebesgluten,
in meinem Herzen lebtest du allein.
Schon ragten auf die Kuppen schroff und schwärzlich …
Schon schlief der See, in schwarzer Nacht erstarrt …
Ich harrte dein so sehnsuchtheiß, so schmerzlich,
so flehentlich … wie man des Glücks nur harrt!
(S. 50)
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Ein blühender Zweig neigte tief sich herab zu den Fluten,
die durchsichtig rein und verklärt vom Abendglanz ruhten.
Er streute Blüten hernieder und sprach: "Wie ich sehne
mich liebevoll nur nach deiner goldstrahlenden Schöne!"
Da scholl die Antwort: "Schön bin ich in strahlendem Golde,
seitdem ich liebevoll spiegle dein Bildnis, das holde!"
(S. 51)
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Gleich dem goldenen Abendstern blickst du so rein,
so unnahbar, so hold, so voll Segen!
Gleich der Meerflut erbraus ich im Abendrotschein
und schwell auf, deinen Strahlen entgegen.
O vergiß deine Ruh und blick mitleidvoll mild
auf das Weh meines Herzens, das schwere -
und es wird als ein Abendstern strahlen dein Bild
in der Brust mir, dem tiefstillen Meere …
(S. 51)
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O schweige von der Zeit, die spurlos längst verflossen!
Aus der Erinnerung sei ewig sie gebannt!
Der Leichnam ist verbrannt, die Urne ist geschlossen -
und öffnen soll sie keine Hand!
Je lichter uns gestrahlt das Einst, verklärt durch Liebe,
um desto finstrer scheint die Gegenwart zu sein.
Wo hell wir einst gelacht, da lächeln heut wir trübe,
und Qualm ersetzt den Kerzenschein.
Doch ob dein Herz auch glüht in seligem Erbeben -
ruf die Vergangenheit nicht aus dem Grab zurück!
Laß in die Zukunft uns, die ferne, rastlos streben:
vielleicht verbirgt sich dort das Glück!
(S. 52)
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Einst am Fluß, voll Dranges nach dem Schönen,
schritten wir auf unbetretner Bahn:
ich – mit meinem rosenroten Sehnen,
du – mit deinem lilienweißen Wahn.
Und wohin den Blick ich mochte wenden,
und wohin dein Auge immer sah -
da erblühten Rosen allerenden
und erblühten Lilien zahllos da.
Und Geschlechter kamen und vergingen,
ihre Wege lagen uns entrückt.
Märchen hörten wir den Fluß uns singen,
und den Märchen lauschten wir verzückt.
Sahen wir von fern das Dunkel gähnen -
kämpften wir mit ihm bei seinem Nahn:
ich – mit meinem rosenroten Sehnen,
du – mit deinem lilienweißen Wahn.
Und derselbe Weg ist's – ob vergangen
Jahre sind – der uns gen Westen zieht,
wo uns leuchtet ewges Sonnenprangen,
wo uns singt die Ewigkeit ihr Lied.
Hand in Hand noch streben wir zum Schönen,
keiner Menschensatzung untertan:
ich – mit meinem rosenroten Sehnen,
du – mit deinem Lilienweißen Wahn.
(S. 55-56)
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Biographie:
Tochter des Historikers Sergej Michajlowitsch Solowjew, sowie Schwester
des Philosophen Wladimir und des Romanschriftstellers Wsowold S.
Solowjew. – wurde am 1. April / 20. März 1867 in Moskau geboren, wo sie
eine häusliche Erziehung erhielt und eine hervorragende Zeichenschule
besuchte; einige ihrer Bilder figurierten auf Gemäldeausstellungen. 1885
betrat sie die literarische Laufbahn. Ihre Gedichte veröffentlichte sie
unter dem Pseudonym "Allegro"; sie erschienen gesammelt in zwei Bänden,
beide mit Vignetten der Dichterin geschmückt.
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In der Übersetzung von
Friedrich Fiedler (1859-1917)
Gedichte
und Biographie aus: Russische Dichterinnen. Ausgewählte Dichtungen
übertragen und mit biographischen Notizen versehen von Friedrich
Fiedler.
Leipzig Verlag von Philipp Reclam jun. 1907
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