Liebeslyrik ausländischer Dichterinnen

von der Antike bis zum 20. Jahrhundert
(in deutscher Übersetzung)

 


T'sai-yen = T'sai-Wendschi
(Ende des 2. Jh.s n. Chr.)

chinesische Dichterin


Tsai-yen's Klage

I.
Wenn es dem Himmel
Nicht an einem Auge gebricht,
Warum denn sieht er
Mich in der Verbannung hier nicht?

Und wenn die Gottheit
Noch nicht ihre Allmacht verliess,
Wie kommt's, dass sie mich,
Vom Südmeer zum Nordpol verstiess?

Ich hab' nicht wider
Des Himmels Gebote gefehlt.
Warum hat er mich
Mit solch einem Gatten vermählt?*

Ich hab' die Gottheit
Beleidigt auch nicht durch mein Thun.
In Wüsteneien
Warum denn verbannt sie mich nun?

Beschwicht'gen möcht' ich
Wohl durch dieses Liedchen mein Herz.
Kaum ist's verklungen,
Durchzuckt meine Brust neuer Schmerz.


II.
Wie ohne Grenzen
Der Himmel, die Erde ohn' End',
In meinem Busen
So endlos der Kummer auch brennt.

Das Menschenleben
Es flieget vorüber so bald,
Schnell wie ein Füllen
Setzt über den klaffenden Spalt.

Ich kann nicht scherzen,
Versagt ist mir jegliche Freud',
Obwohl mir lächelt
Der Jugend so liebliche Zeit.

Dem Himmel droben,
Ihm möchte ich klagen mein Leid,
Dem azurblauen,
Umsonst, denn er ist gar zu weit.

Nur leere Wolken
Und Dunstmassen sehe ich dort
Dies Lied des Kummers
Wer trägt's in die Ferne wohl fort?


III.
Bei diesem Liede
Da ist mir so traurig zu Sinn:
Des Sohnes** gedenkend,
Von dem ich geschieden jetzt bin.

Die Sonn' im Osten
Den Mond doch im Westen kann sehn.
Wir sind getrennt ganz,
D'rum fühl' ich das Herz mir vergehn.

Das trübe Sinnen
Verscheucht auch das Schmerzenskraut*** nicht,
Zum Saitenspiel selbst
Vor Kummer die Kraft mir gebricht.
_

Von meinem Sohn fort
Kehrt' heim ich ins Vaterland jetzt.
Mein früh'res Leiden
Ward schnell durch ein neues ersetzt.

Mit blut'gen Thränen
Klag' bitter den Himmel ich an,
Der mich erschaffen
Und solches mir angethan.


(Die drei Gedichte sind dem Liedercyclus von 18 Gedichten der Dichterin entnommen.
Sie war vermählt mit Tung-see, wurde aber im Jahre 194 n. Chr. bei einem Einfall
der Hsiung-nun von diesen geraubt und von ihrem Fürsten geheirathet, dem sie
zwei Söhne gebar. Später wurde sie für 1000 Goldstücke wieder losgekauft
und ihrem ersten Manne zurückgegeben.)

* Der Fürst der Hsiung-nu
** Einer der beiden Söhne, die T'sai-yen im Lande der Hsiung-nu zurücklies
*** Die Taglilie, Hemerocallis graminea, soll die Kraft haben,
Schmerzen vergessen zu machen.


Übersetzt von Alfred Forke (1867-1944)

Aus: Blüthen chinesischer Dichtung
Aus der Zeit der Han- und Sechs-Dynastie
II. Jahrhundert von Christus bis
VI. Jahrhundert nach Christus
Aus dem Chinesischen metrisch übersetzt von A. Forke Magdeburg 1899
Commissionsverlag Faber'sche Buchdruckerei (S. 18-19)
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