Else Lasker-Schüler (1869-1945)
Abigail droht seiner unschuldigen Stadt |
Sterndeuterei
Soll Ihr Leib noch länger mit seinen Sternen in der Hand Ihres Arztes
liegen und wie lange überlassen Sie ihm noch Ihren Verstand? Fragen Sie
einmal so im Vorübergehen den Doktor, ob er von Ihrem Sternensystem eine
Ahnung hat. Oder wenden Sie sich an einen Irrenarzt, der am gründlichsten
Bescheid wissen müßte von der Astronomie des Menschen; sitzt er doch an
seinem Pol, wie ein falscher Gott am Scheidewege, wo sich der Stern vom
Chaos trennt. Es gibt gar keinen Irrsinn im Sinne der Eisenbärte, aber wer
wird mich nicht verspotten, wenn ich behaupte, es gibt eine Veränderung im
Sonnensystem, es gibt eine Veränderung im Chaos des Menschen. Darum sind
Ihre Leiden aus keinem anderen Grunde entstanden, als aus all zu wuchtigen
Sternenvorgängen. Senkte sich unerwartet Ihre Sonne in eins Ihrer Meere?
Jedwede Behandlung Ihres Arztes ohne genaue astronomische Kenntnis Ihres
Planeten ist ein Vergehen. Unbeschreiblich friedlich stimmt es, einen Mond
in sich zu fühlen, und wer ihn in sich trägt, steht im verwandschaftlichen
Verhältnis mit dem Großgehenden da oben. Nach einem Schwächezustand, den
ich überwand, meine Tore standen noch unbefestigt, fühlte ich den
Durchgang des Vollmonds dicht an dem meinen vorbei, wie ein leichtes
Beben. Nicht dieser Vorgang war ein krankhafter, aber durch die Kraft des
Vorgangs erlitt ich Sternenschaden. Ich war noch lange nach diesem
Ereignis eingehüllt in schwermütigen Wolkengedanken. Glauben Sie, die Erde
etwa nicht noch durch die kürzlich erlittene, erduldete Kometkraft? Denken
Sie an Maria, durch die Gott schritt. Das wird noch einmal geschehen, noch
ewigkeitsmal, immer nach Gottesdrehung, er wendet sich durch Maria. Sie
leidet das höchste Fest durch das Gottwillkommen, sieben Schwerter krankt
ihr Herz. Wir sind das feinste Werk aus Sonne, Mond und Sternen und aus
Gott. Wir sind seine Inspiration, seine Skizze zur großen Welt. Ich
spreche nicht in Symbolen, obschon Symbole die Schatten großer Wahrheiten
sind. Milderungsgründe: wenn etwas Ihren Horizont übersteigt. Sie setzen
das allzuklare Licht mit gewisser Überlegenheit gern ins Dunkle. Ich
möchte aber die Nacht von Ihnen nehmen, wachen Sie auf durch meine
Raketensterne! Ich bin ja keine Gelehrte. Aber wenn ich Menschen
medizinisch behandelte, würde ich sie "regnen" lassen, Luft in weiten
Kreisen "atmen" lassen. Mancher Menschenplanet erstickt an Dürre. Ich
würde die verwandtschaftlichen Sterne ausfindig machen, die mit meinem
Planetpatienten in irgend einem Zusammenhang stehen könnten; namentlich,
wenn es sich um eine epidemische Ursache handelte. Den kleinen Mars des
Menschen kann man nur mit dem gröberen, großen Mars der Welt impfen. Ich
kenne Leute, die unter dem Zusammenstoß ihrer Fixsterne leiden. Es sind
schlechte Pächter ihrer Welt. Jeder Schlaganfall ist ein Zerbersten zweier
vom Wege geirrter Sterne. Die Folge dieser Folge erst ist der Tod. Ich
bitte Sie nicht, an sich herauf und herunter zu suchen; Sie sehen Ihre
Sterne nicht, das was Sie betasten können, ist Chaos. Und weil ich vom
Unantastbaren des Menschen spreche, glauben Sie nicht an meine Medizin und
halten mich für eine Kurpfuscherin. Aber wer an meine Dichtungen glaubt,
die man auch nicht in die Hand nehmen kann, und doch vorhanden sind, wird
auch nicht zweifeln an den Sternen der Menschen, wovon ich ihnen erzähle.
Sind Sie nicht reicher, als Sie glauben? Ich spreche von Ihrem
Unsichtbarsten, von Ihrem Höchsten, das Sie nicht greifen können, wie die
Sterne über Ihnen. Sind Sie nicht reicher, als Sie fassen können! Oder
haben Sie einmal ein Stück Mond gegessen? Sie würden immer nur ein Chaos
greifen, wie der Arzt Ihr Fleisch, daraus er keinen Stern formt. Der
Doktor hat mich längst überführt, indem er mit dem Messer diese Leiche
sezierte: "Der Tote ist an Schwindsucht gestorben, am Zerbersten der
Lunge". Ihr Doktor hat doch keine blasse Ahnung von meiner Medizin.
Allerdings ist dieser Tote an Tuberkulose gestorben, an der Folge seiner
und des Arztes Unkenntnis seines Sternensystems. Und was ich von einer
Epidemie halte? Die ist die Folge der Sintflut im
Massenmenschsternensystem, ein Bacchanale tausender Sterne, daran alle
Bruchteile, alle ungeordneten, unberufenen Fleischchaose zersplittern. Ich
glaube darum an Wunder, an ungestaltete Medizin. Wer aber kann sie
mischen! Jesus von Nazareth tat Wunder, er ergriff die keimenden Sterne
und trennte sie von den faulen, und erweckte die Erblaßten an ihrer noch
verglühenden Sternschnuppe. Der Nazarener wandelte durch das Sternensystem
des Menschen und erlebte die Welt so tief und ging in Gott ein, und Gott
in ihn, darum man ihn verwechselt noch auf den heutigen Tag mit Gott.
Moses der Prophetarzt erkannte den Gott seines Volkes, heilte es und
machte es stark. Eine Sage meiner Bücher sagt von einem Derwisch, der sein
Herz in die Hand nehmen konnte und doch lebte durch die Kraft seiner
Sterne. Wir sind das glühendste Werk von Mond und Sternen, nach unserm
Modell hat Gott die große Welt erschaffen, in der wir: Ureigentum in
unserer erweiterten Kopie leben . . .
Ureigentum noch unverblaßt zu begegnen, erlebe ich überraschend
oft. Diese testamentarischen Sehenswürdigkeiten, Übertragungen, die an
Wert nicht einzuschätzen sind! Ich meine nicht die gemütlichen Hausväter
aus der alten, guten Zeit oder den Waldmenschen, oder den aus der nackten
Körperkultur oder den Zwiebelasketen. Merkwürdig, daß man gerade in den
Irrenanstalten Gesichte erblickt aus allererster Sternzeit; Bilder, alte
Meister, Menschen, die erstarrt sind in der Vision. Und kein Arzt weiß sie
aus dem Augenblick der Erscheinung zu führen, wie aus engem Rahmen. Ich
besuche diese scheintote Gallerien; mich lieben die unverstandenen,
verfangenen Gesichte. Etwa weil ich ihnen den richtigen Platz zu geben
vermag? O, ihre Angstgefühle! Die andern testamentarischen Gestalten
unterscheiden sich von den irrenden Denkmalbildern ihres ungestörten
Sternenlaufs wegen. Solchen Sterngeschöpfen geschehn Wunder. Wie St. Peter
Hille, er hatte noch mit Moses und Jesus von Nazareth gesprochen und mit
Buddha, und erzählte von ihnen, wie der Urenkel etwa von seinem Großvater
Goethe. Das war der unumstößliche Beweis von der ersten Leuchtkraft Gottes
in St. Peter Hille. Ich gehöre nicht zu den Spiritisten; Spiritismus ist
Epigonentum, Nachahmung, gewalttätige Wunder. Um wirkliche Visionen zu
erleben, muß man noch in der ersten Leuchtkraft Gottes sein. So ein
gotterhaltener Mensch ist fromm und selbst Inspirationen fähig. Aus Isaaks
weitem Munde seh ich viel im Traum Sterne aufsteigen, die er benennt nach
Gottes Einverständnis.
Die hungrige Zeit fraß meine Leuchtkraft goldweise. Aber ich kann
erzählen von der Astronomie des Menschen, wenn ich auch in meinen ersten
zehn Jahren noch zwischen weichem Dunkel, zwischen ungeordneter Nacht, im
Chaos lag. Ich war wie ungeboren neben meiner Mutter, noch ganz Chaos.
Das Kind ist nicht fromm, es ist dumpf. Dieser Irrtum! Fromm kann
nur der wissende Mensch sein, aber nicht jeder macht die sechs
Schöpfungstage in seiner Hülle durch und wird Stern, und wenige nur den
Sonntag. Wieviele Heilige gibt es und doch ist jeder Andächtige oder
Lauschende, jeder Staunende oder Liebende ein Heiliger. Wenn Jesus von
Nazareth die Kinder rief, so fühlte er Verantwortung mit ihnen, mit dem
Chaos, das sich entfalten werde. Er wußte, wie weit der Weg zum Sterne
war. Die Kinder sind wie die Lämmer so dumpf. Darum beleidigt mich das
irrige Wort: Jesus das "Lamm" Gottes. Solche Unschuld ist eine
Chaosunschuld und der Nazarener war der Sonntag der Schöpfung. Der Jude
hat sich mit ihm der vollendetsten Welt entledigt. Sagte der Sonntägliche
doch zu einem der Mörder am Kreuztag: "Wahrlich, ich sage Dir, heute wirst
Du mit mir im Paradiese sein." Der Jude, der den Himmlischen verstößt,
beweist, daß er ein Bürger ist, um nichts weniger der Mensch des
Abendlandes, der den verlorenen Gott der Juden aufnahm, ihn sich erzog und
erwog nach seinem lammblutenden Wort. Im Menschen bereitet sich immer
Fleischdumpfheit, Chaos, Fleischsehnsucht; Gott aber ist ungestaltet,
ungerahmt und breitet über alles sich. Wir reden immer zu dem Chaos des
Menschen, wollen wir ihn gewinnen, denn der Stern ist böse, darum sind wir
alle einmal krampfhaft enttäuscht in Gott. Wir finden in ihm kein Chaos,
keinen faßbaren Schlupfwinkel. Er sandte darum seinen Sohn, das heißt, er
kam in Menschengestalt zur Erde. Solcher Umgestaltung Demut vom Stern zum
Chaos ist nur ein Gott fähig. Nie war solche Dunkelheit je auf Erden und
am Himmel und im Menschen wie in der Zeit des Gottbesuchs. Dem Priester
und Pharisäer flößte seine Betastbarkeit Mißtrauen ein, der Armselige
umklammerte den vertriebenen Götzen aus Fleisch und Blut wie einst am Fuß
des Mosesberges das goldene Kalb.
Sie wollen noch wissen, wie lange sich der Menschplanet erhält. Die
meisten Menschen werden nicht älter und nicht jünger als sechzig Jahre.
Jesus von Nazareth ist gottalt wie die Ewigkeit. Moses war zehntausend
Jahre, als die Tochter Pharaos ihn im Korbe fand. Und von dem Propheten
St. Peter Hille möchte ich sagen: Niemand wußte um seinen Geburtstag.
Meine Mutter war dreimal sechzehn Jahr alt, mein Vater erlebte sechsmal
seine tollsten Knabenstreiche. Wie schätzen Sie mich ein? Ich bin David
und tue Simsontaten, ich bin Jakob und deute die Träume der Kühe und
Ähren. (Oder zweifeln Sie daran, daß mich meine Brüder verkauft haben, daß
Bürgermillion!) So verwirrt sich die Zeit der Vergangenheit im Menschen.
Heute bin ich eine Dichterin und ich bitte Sie, mir zu verzeihen, daß
meine Dichtung keine Gehirnkarte geworden ist mit Farben, lila, grün, rot
gefärbt. Meine Bekenntnisse nehmen sie als ein Luxusgeschenk hin, denn ich
bin verschwenderisch, das liegt in meinem Sternsystem. Es kommt mir selbst
nicht darauf an, einige Monde meines Planeten fallen zu lassen. Auch mit
meinem Chaos, ohne das Chaos kommt kein Mensch davon, hat es eine
besondere Bewandtnis. Darüber möchte ich schweigen, aber eines kann ich
Ihnen sagen, wir Künstler sind einmal bis ins tiefste Mark und Bein
Aristokraten. Wir sind die Lieblinge Gottes, die Kinder der Marien aller
Lande. Wir spielen mit seinen erhabensten Schöpfungen und kramen in seinem
bunten Morgen und goldenen Abend. Aber der Bürger bleibt Gottes Stiefsohn,
unser vernünftiger Bruder, der Störenfried. Er kann nicht heimisch werden
mit uns, er und seine Schwester nicht. Verwechselt die lärmende Bürgerin
oder die zur Hure gewordene Magd nicht mit dem spielenden Sternenmädchen,
die den Tanz aus nackter Scham tanzt! - - Wohin mir doch heute alle meine
Sterne geleuchtet haben! Immer muß ich wiederholen, der Arzt sollte sich
auf die Astronomie des Menschen verstehen. Welcher von Ihren Hausärzten
wäre im Stande, eine Sonnenfinsternis in Ihnen herbeizuführen, geschweige
den Stillstand Ihres Planeten?
Ich sehe Ihre Kanäle, Ihre Berge auf Ihren Sternen und Ihren Mond
aufgehen hinter Ihrer Stirn. Jeder Schmerz und jedes Freudegefühl,
Vernichtung oder Erhebung ist ein neues Bild Ihres Sternensystems. Sie
sterben eigentlich an zerborstenen Sternen oder Erkaltung Ihrer Sonne oder
an Finsternis. Wenn nur Ihr Leben den Höhepunkt erreicht hat vor dem
Zerfall Ihres Chaos: den Himmel. Aber er Ihnen nicht auf den Kopf paßte?
Vom Blitzstrahl getroffen, das Chaos gespaltet, einzugehen in die Allmacht
ist Seligkeit. So lausche ich auf mich. Aber der Bürger belauert sich, der
Kranke in Arzthand betrauert sich, weil er keine Achtung vor dem Schmerz
hat. Ich bin müde - wie ich mir entkomme, ein Schatten aus Mond und
Sternen, riesengroß fiel ich um Mittag und sinke nun ein in meinen eigenen
Planeten. Ich habe einen kritischen Tag hinter mir, manche Menschen wichen
mir furchtsam mit den Augen aus. Einem kleinen Mädchen bohrte ich im
Anblicken ein Loch in die Brust. Solche Kraft macht traurig. Ich sehne
mich nach Glück, nach ihm, nach Hascha-Nid, dem goldhäutigen Sohn des
Häuptlings. Der spielt mit sich, treibt und lockt die Sterne über seine
Grenzen, ein göttliches Spiel, Wirbel und Wüstenwind. Ich liebe ihn, weil
er so reich und rein an Sternen ist und ich staune vor solch'
verschwenderischen Launen . . . Aber das geht Sie nichts an. Gern hätte
ich Ihnen noch vom Himmel erzählt. Später, wenn ich ihn erreiche und Gott
-
Gott, wo bist du?
Ich möchte nah an deinem Herzen lauschen
Mit deiner fernsten Nähe mich vertauschen,
Wenn goldverklärt in deinem Reich
Aus tausendseligem Licht
Alle die frühen und die späten Brunnen rauschen.
Aus: Else Lasker-Schüler Werke und Briefe Kritische Ausgabe
Band 3: Prosa 1903-1920
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1998
(S. 162-168)
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