Else Lasker-Schüler (1869-1945)
Imre trägt die heilige goldene Schlange |
Das Kind unter den Monaten
Schon lebt sein Enkel, und die Singvögel singen im Wald. Als ich vor zwei
Monaten auf den Gartenhof blickte, war alles voll Blättchen und freute
sich. Die kleine Akazie trug einen grünen Lockenkopf, die Vogelbeere
träumte von ihrem Korallenschmuck und kokett wiegte sich der Spitzenbaum
in seinen neuen Valenciens; worüber die breitgewordene, mächtige Eiche
lachte, tatsächlich! Der ganze Gartenhof vernahm es, jeder keimende
Grashalm und ich bin Zeuge. Ich spreche so gern von Bäumen, ihre Aeste
tragen wirklich die prachtvollsten Spielsachen; - aus dem Walde kriegt
mich so leicht keiner raus! Endlich steht das Kind der Monate auf dem
Kalender. Nun stürmt die Welt vorwärts in die Sonne hinein: "Alle Vögel
sind schon da, alle Vögel alle!" . . . Endlich war er gekommen, der 1.
Mai, der Messias der Monate. Ein weiches Herz birgt das Wort: Mai. Ein
verheißungsvolles, schmeichelndes Wort, Buchstaben, die ganz reich in den
Sommer geleiten. Das weiß der Himmel wohl und ist blauselig gestimmt. Ich
vermag mich nicht mehr so schnell wie der es kann, zu wandeln von grau auf
himmelfarben, von trübe auf hell; ich meine: aus Weinen Lachen zaubern.
Wir froren alle zu lange, um uns des gekommenen Sonnenstrahls willenlos
hinzugeben, zu glitzern wie spielende Kinder, die nichts wollen und alles
haben, aus denen Buddha wahrscheinlich das Nirwana schöpfte. Die
Allerkleinsten hörte ich schon am frühen Morgen zwitschern, aber auch
dazwischen den Hahn krähen, wenn auch nebelhafter wie gewöhnlich; er soll
irgendwo zu Mittag gebraten auf dem Tisch serviert worden sein und sein
Geist ist es, der die zurückgelassenen Hahninnen in Räson hält. Daß ich
selbst auch Tiere verschlinge, mit Vorliebe Fleisch esse, habe ich mir im
ganzen Leben bis heute noch nicht verzeihen können! Uns Menschen gelüstet
sogar nach raffinierten, verwesten Tiergerichten, lassen es nicht gut sein
damit, das Tier, wie es das Tier zu tun pflegt, frisch von der Natur zu
holen und sich munden zu lassen. Wir rupfen zunächst der kleinen,
geschlachteten Taube die schimmernden Federn aus, reißen ihr die
Eingeweide aus dem noch warmen Leibe, das Herz, das Herz! - Legen den
beraubten, kleinen Vogel, das kopfnickende, freundlich grüßende, arglose
Tierchen in die Bratpfanne und schmoren es. "Bitte, unterbrechen Sie mich
nicht", ich weiß, die Kannibalen sind beinahe ebenso grausam wie wir, aber
immerhin tanzen sie um ihr Opfer einen frommen, - wenn auch gespickten -
Freudentanz, zünden um ihr leckeres weißes Menschgericht allerdings ein
Hochfeuer an, bis es Kruste bekommt. Keineswegs liegt mir daran, die
Menschenfresser zu verteidigen, aber ich möchte dennoch erwähnen, daß
einige Stämme der Menschengenießer vom Aberglauben beseelt sind, mit dem
Kottelett des weißen Mannes auch seine Intelligenz zu vertilgen. Der große
Kannibalengötze mag ihnen ihr Ausredchen gesund erhalten. Ja, es scheint,
wir bedürfen beständig Gegengifte. Fleisch braucht Fleisch. Früchte
erscheinen uns als etwas Totes, wahrscheinlich, weil der Apfel einst den
Tod in die Welt brachte. Wir sollten uns nicht kopfscheu machen lassen;
die Frucht ist ebenso wie Mensch und Tier aus lebendigem Fleisch und Blut,
wie überhaupt alles lebendig ist in der Welt. Und selbst der
verführerische Apfel, die Birne, der Pfirsich, die Aprikose, die Kirsche,
die Orange, die Feige, die Dattel, die Drillingschwestern: Himbeere,
Erdbeere, Brombeere; zuguteletzt die Banane, außerdem die mannigfachen
Gemüse: Weißen und roten Kappes, Rosenkohl, Mohrrüben, der Spargel und
seine adligen Bräute, die grüne Bohne und die Wachsbohne; den Spinat hätte
ich beinahe vergessen, Wirsing, Erbsen und Linsen (mit gerösteten
Brotwürfeln), Gurken und Radieschen, Meerrettich und noch gemüserlei
sollten uns wirklich mit Kartoffelbeilage genügen zum Mahle. Hinter meinen
vegetarischen Aufzeichnungen bitte keinen Obststand in der Markthalle zu
vermuten; meine Erzählung, die in der Anlage gut endet, beabsichtigt
keineswegs der Reklame zu dienen. Alles, alles, ist lebendig in der Welt,
und dieser 1. Mai bringt mir wiederum neue Beweise. Ich liebe die Welt so
und bedaure, daß die internationale Bewegungsfreiheit immer nur an mir
vorbeischwebt. Sie kostet Geld. Der Mitmensch fürchtet im Falle er mir
spende, ich nicht mehr schaffen würde - zumal die Lektüre meiner Werke
seinen Tag ausfüllt. Ich bin ein Vogel, aus bunter Luft geblasen, und wer
noch nie die Wirkung der frischen Luft erlebt hat, der sollte sich selbst
von ihrer Beere überzeugen, mir am Morgen einmal begegnen, berauscht von
der goldschäumenden Himmelstraube. Ich fliege ausdauernder wie der
Zugvogel, die Flügel allein machen es ja nicht; der Odem ist's, der in
Schwung gesetzte Odem, der Flügelschlag des Blutes, das Auflösen des
Gehirns, die Hingabe zum Herrgott. Man muß ja durchaus nicht immer was
denken wollen! Odem ist Kraft! Und Ursünde: Nicht zu atmen. "Tugend" aber,
am Lebendigen mitzuwirken, also zu atmen in gleichmäßigen Zügen. Die
Fakire tun nichts anderes. Einer im hohen Turbane sagte mal zu mir, ich
sei zur Eiszeit eine Möwe gewesen; darum erwache ich manche Nacht durch
meinen eigenen Schrei. Man sollte das im Grunde respektieren. Mein
Zimmernachbar hat sich nämlich beklagt, und mein Leben ist gefährdet. Was
wir nicht verstehen, verachten wir und töten wir mit Vorliebe. Wer nie den
hilflosen Baum jammern hörte beim Fällen, ihn bluten gesehen, oder die
Adern des Felsens schwellen gesehen, schiebt man den Sprengstoff zwischen
den Spalt seines Steins, sollte sich mit der Schöpfungsgeschichte näher
befassen. Nie vergesse ich dich, junges, bebendes, weißes Kalb, da man
dich zum Viehhof schleppte. Kein Engel verhinderte die messererhobene
Gesellenhand.
Wo ist der Lebendigste?
Wer hätte auch nur je seinen Puls erfaßt im Stein der Vergangenheit! "Gott
schuf die Erde, indem er Sich zusammenzog und damit Raum für sie gewann."
Der ehrwürdige Rabbuni meiner Heimat lehrte mich diese überirdische
Weisheit. Also die Gottheit machte dem Weltall Platz, hinterließ ihm seine
Atmosphäre, aus der alles wuchs und gedieh, selbst die Temperaturen, die
Eigenschaften der Länder. Weltordnung halten: des Menschen einzige
Mission. Atmen: Urgesetz, das die Schöpfung in Bewegung hält. Aus dieser
Gott-These rissen sich die Worte: "Du sollst nicht töten!" Als die Furcht
den Menschen hemmte, seinem Atem Einhalt tat, entstand der Tod. Tod
bedeutet Auflösung, und Auflösung heißt im Gottgrunde: Zeitversäumen, und
wir sollten uns befleißigen, uns solange wie möglich lebendig zu erhalten
und ebenfalls den Nebenmenschen nicht, aus irgend einem feindlichen Gefühl
getrieben, töten. Aber schonen für die All-Atemkraft des Schöpfungswerkes
und ihrer All-Lebendigkeit. Und da jedes Ding, Geschöpf ist, vom Mensch
bis zum Kieselstein, und atmet, so sollte man gewissenhafter verfahren.
Selbst vor Gott oder grade vor Gott ziemt es nicht, den Atem einzuhalten,
denn Gott fürchten, heißt nicht Angst haben sollen vor Gott, aber ihn erhfürchten, indem wir gläubig atmen im unendlichen Organismus, Ein- und
Ausatmen mit der ewigen Odemschwinge. - Wie das Gold, schmilzt das
sterbende Auge, nichts lebt intensiver in der Welt als diese beiden
leuchtenden Metalle. Die schmalste Kette aus Gold umfließt deinen Hals,
eine Insel aus abertausend lebendigen Tropfen. Logisch gedacht, gibt es
keinen Tod, nur eine Hemmung, eine Grube, die wir uns selbst unverschuldet
graben durch die Einhaltung des Odems. Folge: Die Auflösung!
Wo kreist Gott?
Er säuselt mahnend um unser Herz, früher wogte Er um seine Völker. Lehnt
Er sich oder stützt sich an Ihm der von Ihm abgestoßene Raum, den Er
Weltall nannte. Wie verhält sich Gott körperlich zur Welt, falls Er sich
gestaltete. Rücklings oder seitlich? Anzunehmen angesichtlich. Sind wir
nun abgewickelt von Gott oder werden wir getränkt von seiner Urader?
Dieses bewiese die Methodik des Erdreichs. Also erkläre ich mir Gottes
Allmacht zur Welt wie die Mutter zum Kinde. Er, der Wasser vom Land
trennte, Himmel aufsteigen ließ und alles gut fand, wie soll ich
träumender Mensch verstehen, daß sein Gleichnis aus geringerem Material
geformt und seine Ebenbildseele Schaden erleidet, sich stößt und sich in
eigener Haut fassungslos verirrt. Wir sind eben da, am Urkoloß der Welt zu
arbeiten, sie in Kraft zu setzen, das Weltall lebendig zu halten,
unausgesetzt zu atmen. Nur indem wir Edelegoisten dem Kosmos dienen,
bleiben wir lebendig. Wer sich oder seinen Nebenmenschen tötet aus
Liebe oder Feindschaft, wird zum Dieb an der Atemkraft, die das
Schöpfungswerk unseres Vaters in Bewegung hält. Mein tiefer Atemzug
verbindet mich mit dem Universum. Wie bewillkommne ich darum den 1. Mai,
das Goldkind der Monate mit seinem warmen Odem! O, ich liebe die erwärmte
Luft und atme sie ein und aus im ewigen Zuge, trinke sie aus dem Kruge der
Wolke, aus der Schale der Sterne, vom Gottgastgebertisch. Und die Winde,
die über die Flüsse ziehen, tränken mich und die Stürme raube ich den
Wettern zwischen Meer und Meer.
Aus: Else Lasker-Schüler Werke und Briefe Kritische Ausgabe
Band 4: Prosa 1921-1945 Nachgelassene Schriften
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2001 (S. 104-108)
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