weitere Übersetzungen:
Sonett 113
Im Geist wohnt nun mein Aug, das deine Nähe
entbehrt; wo's führen soll, erfüllt's die Pflicht
nur halb, ist blind fast, tut als ob es sähe,
in Wirklichkeit entschwand ihm sein Gesicht.
Dem Herzen vorenthaltend die Gestalt
von Vogel, Blume, allem was da lebt,
gewährt's dem Geiste keinen Aufenthalt,
dem alle dargebotne Schau verschwebt.
Denn was nur im natürlichen Bezirk
zu sehen ist, das Holde und das Wilde,
er formt die Nacht, den Tag, das Meer, Gebirg,
die Taube und die Kräh' nach deinem Bilde.
Mein Auge ging dir allerwegen nach;
so kam's daß treuster Sinn die Treue brach.
Übersetzt von Karl Kraus (1933)
___________
Sonett 113
Seit ich Dich ließ mein Aug' im Innern weilt,
Das was mir leuchtet, meine Schritte lenkt,
Nun, fast erblindend, Licht und Sehkraft theilt,
Scheint es auch sehend, ist's in Nacht versenkt;
Denn keine Form führt's in die Seele ein.
Vorbei ziehn Vogel, Blum und Menschgestalten,
Von keinem Ding fällt in das Herz ein Schein,
Und was es sah, das kann es nimmer halten.
Denn ob's das rauh'st' und zart'st' erblicken mag
Die Mißgestalt, die Anmuth rein und mild,
Den Lenz, das weite Meer, Nacht oder Tag,
Kräh' oder Taub', aus allem formt's Dein Bild.
Weil, wo Du wohnst nicht Raum noch hat daneben,
Muß sich mein treues Herz der Lüg' ergeben.
Übersetzt von Dorothea Tieck (1826)
___________
Sonett 113
Seit ich euch liess verbleibt mein aug im geist
Und was mein führer ist von ort zu ort
Teilt nunmehr seinen dienst · ist blind zumeist ·
Scheint sehend aber wirklich ist es fort.
Nie liefert es dem herzen die gestalt
Von vogel blume körper die es fängt ·
Der hurtige zug macht für den geist nicht halt
Noch bannt es selbst die schau die es empfängt.
Ob es das rauhste · zartste sehen mag ·
Die süsste stirn · den ungestaltsten wicht:
Es formt gebirg und see und nacht und tag
Und taub' und kräh nach eurem angesicht . .
So dass für andres schwach · von euch gefüllt ·
Mein treuster geist mein aug in untreu hüllt.
Übersetzt von Stefan George (1909)
___________
Sonett 113
Seit ich dir fern bin, ist mein Aug' im Sinn:
Und jenes, das mich führt von Ort zu Ort,
Teilt seine Tätigkeit; zum Teil ist's blind;
Scheint sehend, doch in Wahrheit ist's verdorrt.
Denn keine Formen, keinen Widerschein
Von Blum' und Vogel, was sich zu ihm drängt,
Nichts bringt sein schnelles Sehn dem Herzen ein,
Ja seine Sehkraft hält nicht, was sie fängt.
Denn schön und häßlich, was es schauen mag,
Unförmlichkeit, wie süßestes Vergnügen,
Berg oder Ozean, Nacht oder Tag,
Taub' oder Kräh', es formt's nach deinen Zügen.
So voll von dir und fähig sonst zu nichts,
Wird so mein treuster Sinn Verführer des Gesichts.
Übersetzt von Johann Gottlob Regis (1836)
___________
Sonett 113
Entfernt von Dir, trag' ich mein Aug' im Geist,
Und jenes andre, das den Schritt mir lenkt,
Ist außer Dienst gesetzt; als blind erweist
Es sich selbst da, wo es zu sehen denkt.
Hier in mein Herz trägt es kein Bild hinein
Von Vogel, Blüth' und Menschenangesicht;
Es sieht der Dinge Wechsel wohl, allein
Der Geist erfaßt die Form der Dinge nicht.
Denn was das Auge nur erblicken mag,
Wie reizend es auch sei, wie widerlich,
Taub' oder Kräh', Berg, See, Nacht oder Tag,
Der Geist formt es nach Dir und sieht nur Dich.
Er kann nicht anders: ganz erfüllt von Dir,
Macht seine Treu das Auge treulos mir.
Übersetzt von Ferdinand Adolph Gelbcke (1867)
___________
Sonett 113
Im Geiste ist mein Aug', seit ich mich trennte
Von Dir, und jenes, das mich führt einher,
Ist amtsuntreu, halb blind, und thut als kennte
Es sich noch aus, und sieht doch gar nichts mehr;
Denn keine Form kann es zum Herzen führen
Von Vögeln, Blumen, was es auch umspannt;
Vom schnellen Sehn läßt nichts den Geist es spüren,
Noch hält sein Blick das fest, was er erkannt.
Denn ob's das Rohste oder Schönste sehe,
Das Süßeste, den Hohn der Creatur,
Berg oder See, Tag oder Nacht, ob Krähe,
Ob Taube: er sieht drin Dein Antlitz nur.
So, voll von Dir, unfähig für das Neue,
Verräth mein treuer Geist des Auges Treue.
Übersetzt von Fritz Krauss (1882)
___________
Sonett 113
Seit fern ich von dir, ist mein Aug' im Sinn;
Was leitend mich auf meinen Wegen richtet,
Hat seine Kraft getheilt, ist blind dahin,
Scheint sehend zwar, doch ist es ganz vernichtet.
Denn nicht dem Herzen kann es übergeben
Die Form, die Blum' und Vogel dar ihm stellt,
Den Geist berühret nicht im flücht'gen Weben
Das Bild, das kaum Beschauung fest sich hält.
Denn mag's das Rohste, mag's das Schönste schauen,
Ob süßen Reiz, ob schnödes Ungethier,
Ob Berg, ob See, ob Tag, ob nächtig Grauen,
Ob Kräh', ob Taub' – es bildet sie nach dir.
Erfüllt von dir, zu Anderm nicht geneigt,
Mein treuster Sinn treulos sich mir so zeigt.
Übersetzt von Emil Wagner (1840)
___________
Sonett 113
Mein Auge sitzt, seit wir geschieden sind,
In meinem Geist, und lenkt es meinen Schritt,
So tut es halben Dienst, halb ist es blind,
Scheint sehend, doch in Wahrheit bin ich's quitt.
Denn keine Form mehr bis zum Herzen bringt es
Von Blumen, Vögeln, oder was es streift;
Das Leben rings, nicht mehr zum Geiste dringt es;
Sein eigner Blick behält nicht, was er greift.
Denn was er sieht, ob ungeschlacht, ob fein,
Ob garst'ge Rauheit oder süße Milde,
Berg oder Meer, Nacht oder Sonnenschein,
Taub' oder Kräh', er formt's nach deinem Bilde.
Unfähig, mehr zu fassen, voll von dir,
Wirkt so mein treuer Geist Untreu' in mir.
Übersetzt von Otto Gildemeister (1871)
___________
Sonett 113
Mein Aug liegt mir im Herzen, seit wir ferne,
Und die sonst meinem Schritt geliehn ihr Licht,
Halb thätige, halb blinde Augensterne,
Sie sehn zum Schein nur, doch in Wahrheit nicht.
Es kann zum Geiste keine Form gelangen,
Von Vogel, Blum' und anderen Gestalten;
Nicht dringt zur Seele, was das Aug empfangen,
Kein Bild vermag sich in ihm selbst zu halten.
Mag es das Häßlichste, das Schönste schauen,
Ein rauhes Antlitz, ein Geschöpf voll Milde,
Tag oder Nacht, Seen oder Berg und Auen,
Kräh' oder Taub' es formt's nach deinem Bilde.
Mein wahrhaft Herz, nur voll von deinen Zügen
Zwingt, schwach zu weitrem Thun, den Blick zu lügen.
Übersetzt von Benno Tschischwitz (1870)
___________
Sonett 113
Im Herzen liegt, seit wir uns ferne sind,
Mein Aug' — und das, das meine Schritte lenkt,
Thut seinen Dienst nur halb und ist halb blind,
Scheint sehend zwar, doch ist's in Nacht versenkt;
Denn keine Form, von welcher Art sie sei,
Führt es dem Herzen zu; die mannigfalt
Und schnell erhaschten Bilder bringt's nicht treu
Und hat darüber kaum noch selbst Gewalt.
Denn ob es schau' das holdeste Gebilde,
Ob was nur hässlich ist und ungestalt,
So Tag wie Nacht, so Berge wie Gefilde,
Taub' oder Kräh', macht's ähnlich dir alsbald.
Ganz voll von dir, für die ich leb' und bin,
Macht mein so treues Herz untreu den Sinn!
Übersetzt von Alexander Neidhardt (1870)
___________
|