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Sonett 76
Warum entbehrt mein Vers der neuen Pracht
und dient nicht dem Geschmack der letzten Mode?
Warum ist meine Form nicht nachgemacht
der ausgesucht modernen Wortmethode?
Wie kommt's, daß so mein unbeirrter Geist
Gedanken hüllt in allbekannte Hülle,
wo jedes Wort schon auf den Autor weist,
an jedem gleich erkennbar wird sein Wille?
Das kommt wohl daher, daß ich Ausdruck geben
von dir allein nur kann und meinem Lieben;
und leih ich alten Worten neues Leben,
so ist mein Lied das alte doch geblieben.
Der Sonne gleich mit täglich gleichem Schein,
fällt mir für dich nur stets dasselbe ein.
Übersetzt von Karl Kraus (1933)
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Sonett 76
Mein Vers ist nicht an neuen Zierden reich:
Arm an Erfindung, Witz und neuem Sinn,
Was blick' ich nicht zur Seite, Andern gleich
Und stell' auf fremde Art auch Neues hin?
Wie kommt's daß ich beim Alten stets verweile?
Erfindung geht in längstbekannter Tracht:
Mein Name spricht ja fast aus jeder Zeile,
Und jeder Vers verräth wer ihn gedacht.
O Freund! von Dir nur schreib' ich fort und fort
Mein Vorwurf bist nur Du, und Lieb' und Treu,
Das alte kleid' ich neu mit altem Wort
Das oft gesagte sag' ich froh auf's neu.
An jedem Tag ist jung und alt die Sonne
So ist mir täglich neu die Liebeswonne.
Übersetzt von Dorothea Tieck (1826)
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Sonett 76
Was ist mein vers an neuer pracht so leer ·
Von wechsel fern und schneller änderung?
Was schiel ich mit der zeit nicht auch umher
Nach neuer art und seltner fertigung.
Was ich nur stets das gleiche schreib · das eine ·
Erfindung halt im üblichen gewand?
Dass fast aus jedem wort mein name scheine ·
Die herkunft zeigend und wie es entstand?
O süsses lieb · ich schreibe stets von dir
Und du und liebe · ihr seid noch mein plan . .
Mein bestes: altes wort in neuer zier:
Dies tu ich immer · ists auch schon getan.
So wie die sonne täglich alt und neu
Sagt meine liebe schon gesagtes treu.
Übersetzt von Stefan George (1909)
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Sonett 76
Warum ist kahl mein Vers an neuer Pracht,
So fern von Buntheit und behendem Wechsel?
Warum nicht schiel ich, wie die Welt es macht,
Nach neuerfundnem Stil und Wortgedrechsel?
Weshalb nur schreib ich stets, was man schon kennt,
Und laß in künd'ger Tracht die Muse gehen,
Daß jedes Wort fast meinen Namen nennt
Und seine Herkunft zeigt und sein Entstehen?
Ja, Liebster, einem Thema bleib ich treu:
Von dir und Liebe handeln meine Lieder;
Wenn's hoch kommt, kleid ich alte Worte neu,
Und was ich schon vertat, vertu ich wieder.
Wie täglich neu und alt der Morgen tagt,
So sagt die Liebe, was sie stets gesagt.
Übersetzt von Otto Gildemeister (1871)
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Sonett 76
Warum ist mein Gesang so arm und stumm
An jungem Prunk, an flinken Neuigkeiten?
Was seh' ich mich nicht mit den Zeiten um
Nach neuerfundnen fremden Ohrenweiden?
Was schreib' ich immerfort dieselben Züge,
In dem gewohnten Kleid das alte Lied,
Daß jedes Wort fast meinen Namen trüge,
Und jeder leicht, woher es käm, erriet?
O wisse, süßer Freund! Du bist allein
Mein Lied, und Lieb' und du mein einzig Wort.
So kann ich ewig Altes nur erneu'n,
Und schon Gegebnes geb' ich wieder fort.
Denn, wie die Sonne täglich auf und nieder,
Sagt meine Liebe stets Gesagtes wieder.
Übersetzt von Johann Gottlob Regis (1836)
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Sonett 76
Warum ist mein Gedicht dasselbe immer
Und zeigt nicht Wechsel und Veränderung?
Warum schau' ich nicht aus nach fremdem Schimmer,
Nach neuer Art, seltsamem Redeschwung?
Warum schreib' ich nur Eins und stets nur Dieses
Und leih' bekanntes Kleid der Phantasie,
Daß jedes Wort beinah mich nennt, als ließ' es
Erkennen, wer es schuf und wie's gedieh?
Oh, wisse, Freund! Daß ich in Dir nur finde
Den Stoff, der mich begeistert zum Gesang;
So ist mein Bestes, daß ich neu verbinde,
Was mir in Worten aus dem Herzen drang.
Wie täglich neu und alt das Licht der Sonnen,
Fließt Altes neu aus meiner Liebe Bronnen.
Übersetzt von Fritz Krauss (1882)
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Sonett 76
Warum mein Vers der Neuheit Glanz entbehrt,
Stets arm sich zeigt an flücht'gem Wechselbildern?
Warum mein Blick der Zeit nicht zugekehrt,
Daß Fremdes ich in neuer Art könnt' schildern?
Warum wohl schreib' ich stets dasselbe Eine,
Bekleide mein Gedicht mit alt Gewand,
Daß jedes Wort sich zeiget als das meine,
Sein Ursprung gleich von Jedem wird erkannt? –
So wisse, holder Freund! daß dich allein
Und deine Liebe stets mein Vers soll singen;
Drum kleid' ich neu die alten Worte ein,
Die alte Gab' auf's Neue dir zu bringen.
Wie täglich jung die alte Sonn' erwacht,
Ist meiner Lieb' in alter Mähr gedacht.
Übersetzt
von Emil Wagner (1840)
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Sonett 76
Was ist mein Lied so frei von jedem Stolze,
So feind dem Wechsel, der Veränderung?
Was schnitz' ich nicht einmal aus andrem Holze,
Such' neue Art und neuer Weisen Schwung?
Was kleid' ich immer in denselben Rahmen
Die Bilder ein, und singe schlicht und stät
Dasselbe fort, bis endlich meinen Namen
Wie seinen Ursprung jedes Wort verräth?
O wisse, Lieb! ich mag von Dir nur singen,
Mein Thema seid ihr beide, Lieb' und Du;
Dasselbe muß ich immer wiederbringen,
Ich stutz' es nur mit neuen Worten zu.
Denn neu und alt, wie jedes Tages Licht,
Ist meine Lieb' und alles, was sie spricht.
Übersetzt von Ferdinand Adolph Gelbcke (1867)
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Sonett 76
Was ist mein Vers an neuem Schmuck so bar?
Nicht wechselreich, lebendig, mannichfalt?
Was schiel ich nicht, wie heut die Dichterschar,
Nach neuen Weisen, seltsamem Gehalt?
Was schreib ich stets dasselbe, stets das Eine,
Und hüll in kenntlich Kleid, was ich erfand,
Daß jedes Wort sich kund gibt als das meine,
Auf den Erzeuger zeigt und wo's entstand?
O, Trauter, stets von dir nur werd ich singen,
Die Lieb und du, ihr sollt mein Inhalt sein;
So wird mir's neu mit altem Stoff gelingen,
Verwendetes führ ich von Neuem ein.
Wie neu und alt die Sonne Tag für Tag,
Spricht meine Liebe nur, was stets sie sprach.
Übersetzt von Benno Tschischwitz (1870)
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Sonett 76
Was ist mein Lied, an Neuem arm, so schlicht,
So fern lebend'gem Wechsel all sein Ziel?
Was kokettier' ich mit der Mode nicht
Durch neue Weisen, wunderlichen Stil?
Was schreib' ich nur dasselbe ewiglich
Und kleid' Erfindung in bekannt Gewand,
Sodass fast jedes Wörtchen zeigt auf mich,
Verkündend, wer so holdes Ziel ihm fand?
O wisse, Lieb! ich schreibe stets von dir —
Ihr — du und Liebe — seid mein Stoff allein;
So bleibt zu künden nur Bekanntes mir
Und der Gedanken Hülle zu erneu'n.
Wie täglich neu und alt die Sonne glüht,
Singt meine Liebe stets ihr altes Lied.
Übersetzt von Alexander Neidhardt (1870)
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