William Shakespeare
(1564-1616)


Sonett 98

Ich war getrennt von Dir im Frühling auch,
Als der April im farbenbunten Drang
Die Welt belebt mit frischem Jugendhauch,
Daß selbst Saturnus mit ihm lacht' und sprang.

Doch nicht der Vögel Sang in Wald und Gründen,
Noch aller Blumen Duft und Farbenspiel
Verlockte mich des Sommers Lob zu künden,
Ich ließ sie ungepflückt auf stolzem Stiel.

Ich staunte ob der Lilien Weiße nicht,
Pries nicht die Glut die in der Rose lebt;
Es schienen Bilder lieblich dem Gesicht,
Doch denen Du als Muster vorgeschwebt.

Und immer schien mir's Winter ohne Dich,
Nur wie Dein Schattenspiel ergötzt es mich.



Übersetzt von Friedrich Bodenstedt (1866)

 


 

 



weitere Übersetzungen:

Sonett 98

Als Frühling war, war ich von dir entfernt;
der Mai trieb's bunt, er unterwies die Zeit,
daß muntern Geist der Jugend sie erlernt,
und selbst Saturn tat mit und war erfreut.

Doch hat kein Vogel, nicht Waldesgrün
noch Blumenduft mich jugendlich beglückt.
Ich ließ die Blumen blühen und verblühn;
ich ließ die Sommerfreude ungepflückt.

Der Lilie Weiß nahm ich nicht staunend wahr,
das Rot der Rose hab ich nicht besungen;
dem Anblick bot ein Wonnebild sich dar,
doch schien's nach deinem Vorbild nur gelungen.

Wie Winter war's; denn du warst doch nicht da.
Der Mai war mir nur als dein Schatten nah.



Übersetzt von Karl Kraus (1933)

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Sonett 98

Von Dir bin ich im Lenz entfernt gewesen,
Als froh der May sein buntes Kleid erneute,
Und Lust der Jugend goß in jedes Wesen,
Daß selbst Saturn sich tanzend mit ihm freute.

Doch nicht der Vöglein Sang, der Blumen Blühen,
Die mannigfaltig Feld und Wiese schmücken,
Erweckten mich zu Frühlingsmelodieen,
Und von dem grünen Schooß sie abzupflücken.

Nicht staunt' ich ob der Lilie weißem Licht,
Und lobte nicht der Rose Purpurschein:
Sie waren schön; doch von sich selber nicht,
Gezeichnet und geformt nach Dir allein.

Von Dir getrennt, deckt' Winter die Gefilde:
Mit jenen spielt' ich, als mit Deinem Bilde.



Übersetzt von Dorothea Tieck (1826)

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Sonett 98

Von dir war ich entfernt im vorfrühling
Als stolz april im bunten schmucke schritt
Und geist der jugend goss in jedes ding -
Der schwere saturn lief und lachte mit.

Doch gab mir vogellied und süsser hauch
Von blumen reich an duft und glanz nicht lust
Mich zu ergehen nach des sommers brauch ·
Sie zu entpflücken ihrer stolzen brust.

Das weiss der lilie nahm ich nicht in acht
Noch lobte ich der rose tiefes rot . .
Sie waren süss · doch abglanz nur der pracht:
Nach dir gezeichnet der das vorbild bot.

Doch winter schien es · denn du kamest nie:
Wie deinen schatten so umspielt ich sie.



Übersetzt von Stefan George (1909)

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Sonett 98
 
Im Frühling war ich fern von dir, wenn bunter
April im vollen Schmuck mit Jugenddrang
Auf Erden alles neu erfüllt, daß munter
Saturn, der träge, mit ihm lacht' und sprang.
 
Doch nicht der Vögel Lieder, nicht der Auen
Vielduft- und farbenreiches Blumenspiel,
Sie konnten mir ein Sommerwort vertrauen:
Ich ließ sie stehn auf ihrem stolzen Stiel.
 
Kein Wunder war mir mehr der Lilien Weiße,
Der Rose tiefen Purpur pries ich nie;
Für liebliche, nach deinem Muster leise
Entworfne Bilder nur erkannt' ich sie.
 
Doch immer schien mir's Winter ohne dich:
Nur wie dein Schattenspiel erquickt es mich.



Übersetzt von Johann Gottlob Regis (1836)

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 Sonett 98
 
Lenz war's, und Du warst fern und ich allein!
April, der buntgeschmückte, schönbefranzte,
Goß Muth der Jugend allen Wesen ein;
Der grämliche Saturn selbst lacht' und tanzte.
 
Doch nicht dem Sang der Vögel, nicht dem Flor
Der Blumen, wie auch Farb' und Duft sie schmückte,
Gelang's, daß ich mich mischte in den Chor,
Daß ich auch eine nur vom Stengel pflückte.
 
Der Lilie Schneeweiß ließ mich staunenlos,
Die Rose hat kein Lob von mir bekommen;
Sie waren lieblich, doch Kopieen blos,
Von Dir, dem einz'gen Muster, abgenommen.
 
Mir schien es Winter, da Du fern von mir,
Und so mit ihnen spielt' ich, statt mit Dir.


 
Übersetzt von Ferdinand Adolph Gelbcke (1867)

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Sonett 98
 
Im Frühling bin ich fern von Dir gewesen.
Als der April, mit heitrem Putz geschmückt,
Goß Geist der Jugend froh in alles Wesen,
Daß lacht' und hüpfte selbst Saturn entzückt.
 
Und doch ließ weder froher Vögel Singen
Noch bunter Blumen süßer Duft auch nur
Ein einzig Sommermärchen mir gelingen,
Mich jene pflücken auf der stolzen Flur:
 
Der Lilie weiß, es hat mich nicht geblendet;
Der Rose tiefes Roth, ich pries es nicht:
Das waren Wonnebilder nur, vollendet
Nach einem Muster – deinem Angesicht.
 
Mir schien es Winter noch, und da du ferne,
Spielt ich, als wär's Dein Geist, mit diesen gerne.



Übersetzt von Fritz Krauss (1882)

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Sonett 98
 
Fern war ich von dir in der Frühlingszeit,
Wann bunter Mai in seiner stolzen Pracht
Jeglichem Dinge frischen Reiz verleiht,
Daß selbst Saturn, der alte, mit ihm lacht.
 
Doch Vogelsang und Blumen, schön erblüht
In bunten Farben auf der grünen Flur,
Begeisterten mich nicht zum Sommerlied,
Von allen pflückt' ich auch nicht eine nur.
 
Bewundern konnt' ich nicht der Lilie Weiß,
Und nicht lobt' ich der Rose dunkles Roth;
Sie waren, wenn auch voller Ruhm und Preis,
Ein Nachbild nur, dem sich dein Muster bot.
 
Noch Winter schien's, und da wir dich nicht hatten,
Spielt' ich mit ihnen wie mit deinem Schatten.



Übersetzt von Emil Wagner (1840)

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Sonett 98
 
Fern war ich dir in holder Lenzeszeit,
Als rings der Mai in seiner buntsten Pracht
Den Geist der Jugend ausgoss weit und breit,
Bis selbst Saturn, der Greis, mit ihm gelacht.
 
Doch nicht der Vöglein Weisen rings umher
Und nicht der Blumen holder Duft und Schein
Verlockten mich zu einer Sommermähr,
Noch dass ich jene pflückt' am Quellenrain.
 
Der Lilie Weiß bewunderte ich nicht,
Noch pries der Roses tiefes Roth ich hier,
Gebilde waren's, die, ganz Lust und Licht,
Nach ihrem Vorbild nur gemacht, nach dir!
 
Und Winter schien es, da du fern, als sei
Dein Schatten nur der süße, goldne Mai.



Übersetzt von Alexander Neidhardt (1870)

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Sonett 98
 
Im Frühling auch war ich getrennt,
Wenn der April, stolz auf die bunte Pracht,
Durch Alles haucht der Jugend Element,
Daß selbst der Greis Saturnus hüpft und lacht.
 
Doch nicht der Vögel holde Melodei,
Nicht Duft der Blumen, süß und mannichfalt,
Ließ mich vom Sommer singen froh und frei,
Ich ließ sie prunkend stehn in Wies' und Wald.
 
Nicht staunt ich ob der zarten Lilien Reine,
Noch sang ich von der Rosen Scharlachkleide,
Zum Schein entzückten sie, sind hold zum Scheine,
Dir nachgemalt, bist Muster du für Beide.
 
Mir war' wie Winter. Da wir dich nicht hatten,
Scherzt' ich mit ihnen wie mit deinem Schatten.



Übersetzt von Benno Tschischwitz (1870)

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Liste der hier vertretenen Übersetzer:

  1. Bodenstedt Friedrich  (1819-1892)
    William Shakespeare's Sonette in Deutscher Nachbildung von Friedrich Bodenstedt,
    Berlin (Verlag der Königlichen Geheimen Ober - Hofbuchdruckerei R. Decker) 1866
     
  2. Gelbcke Ferdinand Adolph (1812-1892)
    Shakespeare's Sonette, übersetzt von F. A. Gelbcke,
    Hildburghausen Leipzig (Verlag des Bibliographischen Instituts) oJ (1867)
     
  3. George Stefan (1868-1933)
    Sonnette, Umdichtung von Stefan George, Berlin (Georg Bondi) 1909
     
  4. Gildemeister Otto (1823-1902)
    Shakespeare's Sonette, übersetzt und erläutert von Otto Gildemeister,
    mit Einleitung und Anmerkungen, Leipzig (F. A. Brockhaus) 1871
     
  5. Kraus Karl (1874-1936)
    Nachdichtung von Karl Kraus, Wien Leipzig (Verlag der Fackel) 1933
     
  6. Krauss Fritz (1842-1881)
    Shakespeare's Southampton - Sonette, deutsch von Fritz Krauss, Leipzig 1872
     
  7. Neidhardt Alexander (1819-1908)
    Shakespeare's kleinere Dichtungen, deutsch von Alexander Neidhardt, Berlin (um 1870)
     
  8. Regis Johann Gottlob (1791-1854)
    Shakspeare - Almanach, Hg. von Gottlob Regis, Sonnette, Berlin 1836
     
  9. Tieck Dorothea (1799-1841)
    Shakespeares Sonette in der Übersetzung Dorothea Tiecks
    kritisch herausgegeben von Christa Jansohn, Tübingen (Francke Verlag) 1992

     
  10. Tschwischwitz Benno (1828-1890)
    Shakspere's Sonette, deutsch von Benno Tschischwitz, Halle (Barthel) 1870
     
  11. Wagner Emil (1810-1889)
    William Shakspeare's sämmtliche Gedichte,
    Im Versmaße des Originals übersetzt von Emil Wagner, Königsberg 1840

     

Liste der Übersetzer von Shakespeares Sonetten:
http://pages.unibas.ch/shine/translatorsgerman2.htm

 

 

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