Aus: Der Buchstabe Schin
XXII. (22)
Trink' ich vom
Rubine der Lippen,
Ach! wo bleibt der Verstand!
Sehe ich das trunkene Auge,
Wer bewahret mich dann?
Immer, immer bleib' ich dein Sklave,
Hast du meiner nicht nöthig,
O so kauf' für mich in der Schenke
Eine Kanne mit Wein.
In der Hoffnung einst zu erhalten
Eine Kanne mit Wein,
Geh' und trag' ich selber auf meinen
Schultern Kannen mit Wein.
Aus Begierde deines Rubines,
Gießt des Wirthes Saka 1
Aus den Augen Wasser zur Schwelle
Der Verkaufenden hin.
Sag' nicht unterdrücke den Odem,
Oder schweige jetzt still;
Wer kann wohl gebiethen den Vögeln
Still zu seyn auf der Flur.
Wenn nach deinem Zeichen ich dürste,
Wo ist dann die Geduld?
Wenn ich deine Sagen erzähle,
Wo ist dann der Verstand?
Gebet den gefrorenen Seelen
Den gesottenen Wein,
Denn der Wein für sich ist ein Feuer
Stärker flammt er gekocht.
Als man vom Sultane der Liebe
Mir gegeben das Kleid,
Wurde ausgerufen die Kunde,
Schweige still o Hafis!
1 Saka Wasserträger; eine
besondere Zunft in allen Städten des Morgenlandes. In Konstantinopel
sind sie zu den verschiedenen Corps der Miliz auf eine groteske Art in
Leder gekleidet und mit Schellen behangen. Sako ein Wasserträger
und Saki, ein Schenke sind unstreitig nahe Verwandte mit
SakaV
dem Mundschenken in Xenophon's Cyropädie; was Hafis hier sagen will,
ist: der Wasserträger des Wirths braucht nicht erst Wasser zu bringen um
den Wein zu mischen; der Anblick deiner Lippenrubine entpreßt ihm Ströme
von Wasser, mit denen er den Wein mischt.
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