Aus: Der Buchstabe Ta
LX. (60)
Noch niemand sah dein Angesicht,
Doch harren dein schon tausend Nebenbuhler;
Noch in der Knospe harren dein
Schon tausend Nachtigallen.
Wenn ich mich deiner Wohnung nah',
Was nimmt es dich, sprich, was nimmt es dich Wunder?
Unendlich viel der Fremden giebts
Im Lande, die mir gleichen.
So weit bin ich von dir entfernt,
O möchte Niemand sich von dir entfernen!
Doch des Genußes Hoffnung ist
Sehr nahe mir gelegen.
Die Kloster- und die Schenkenluft 1
Sind wenig von einander unterschieden,
Das Antlitz des Geliebten strahlt,
Wo immer es sich findet.
Wo frommer Zellen heilig Werk
Betrieben wird mit regem Geist und Eifer,
Dort tönt des Mönches Glockenschall,
Dort tönt des Kreuzes Name.
Ist ein Geliebter, welcher nicht
Den Liebenden des Anschau'nswürdig hielte?
Ich bin nicht krank, und wenn ichs bin,
So ist der Freund bei Handen.
Hafisens Klagen um den Freund
Sind doch zuletzt nicht in den Wind gesprochen.
Sie sind ein altes Fabelbuch
Und eine Wundersage.
1 Nicht nur die mystischen
Kommentatoren Schemi und Saruri, sondern
auch selbst Sudi meint, daß hier unter der Klosterliebe
der Islam und unter der Schenkenliebe alle
übrigen Religionen verstanden würden, und daß Hafis
habe sagen wollen, es gelte gleichviel, Gott auf diese
oder jene Art anzubeten. Dies wollen wir nun auch so
verstanden wissen, obgleich die darauf folgenden Strophen
zur Vermuthung berechtigen, daß sowohl die Kloster- als
auch die Schenkenliebe im eigentlichen Sinne genommen
ist.
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