Mohammed Schemsed-din Hafis

(Übersetzung: Vincenz Ritter von Rosenzweig-Schwannau)


Aus: Buchstabe Te

89.

Wird vor der Gestalt des Freundes
Die Zipresse je erwähnt?

Hat die Schlanke doch vom Freunde
Ihre Hochgestalt entlehnt.

Nimmer will ich Sein gedenken
Unter der Zipresse Bild;

Hoch zwar ist sie, die Zipresse,
Doch von Selbstsucht auch erfüllt.1

Dennoch steht Er, als Zipresse,
Stets an meines Auges Rand:

Hat doch stets am Stromesufer
Die Zipresse ihren Stand.

Seines Haares, Flaum's und Maales
Dachte oft die Morgenluft

Im Gespräche mit dem Moschus;
D'rum verhaucht er süssen Duft.

 Über seinem hellen Monde
Schwebt ein Schriftzug, hoch und frei:

Wer enträthselt, ob's ein Neumond,
Oder eine Braue sei?

Tausend Seelen opfr' ich Jenem,
Dessen Haupt beim Liebesspiel

Gleich dem Balle in das Häkchen
Seines Lockenschlägels fiel.

Soll Sein Mund den Wunsch des Herzens
Dir erfüllen, folge nicht,

Gleich Hafisen, Seinem Auge,
Das auf Streit nur ist erpicht.
 

1 Die Zipresse, das Sinnbild der Freiheit, wird hier der Selbstsucht beschuldigt, weil sie hoch aufschiesst, ehe sie Äste treibt, diese Äste gerade zum Himmel emporstreben und sie gleichsam jede Berührung mit dem mütterlichen Boden verschmäht.

 

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