Aus: Buchstabe Dal
31.
Ein Herz, das Tiefverborg'nes zeigt
Und Herr von Dschem's Pocale1 ist,
Grämt nimmer sich um einen Ring,
Den es verliert für kurze Frist.2
Dem Flaum und Maal der Bettler3 gib
Des Herzens reichen Schatz nicht Preis:
Gib einem Königgleichen ihn,
Der seinen Werth zu schätzen weiss.
Nicht jeder Baum mag widersteh'n,
Wenn rauh der Herbst ihn überfällt;
Doch lob' ich die Zipresse mir,
Die auf so festem Fuss sich hält.
Mein Herz, auf seine Freiheit stolz,
Hat, ahnend deiner Locken Duft,
Nun hundert Dinge abzuthun
Mit der geschäft'gen Morgenluft.
Die Zeit ist da, in der berauscht
Narzissen gleich und lusterregt
Wer nur sechs Drachmen noch besitzt,
Dem Becher sie zu Füssen legt.4
Wer gibt mir was mein Herz begehrt?
Hab' ich doch keinen Herzensfreund,
Der mit des Blickes Zärtlichkeit
Die Gaben edler Huld vereint!
Gleich Rosen, halte jetzt dein Gold
Nicht karg zurück und kaufe Wein:5
Es würde sonst der Allverstand6
Dich hundertfacher Schande zeih'n.
Von dem Geheimniss jener Welt
Hat Niemand Kunde; schweige d'rum:
Denn welchen Eingeweihten führt
Ein Weg in dieses Heiligthum?
Zeigt von Hafisens Mönchsgewand
Sich irgend eines Nutzens Spur?
Wir sehnen nach dem Ew'gen uns,
Er aber sich nach Götzen nur.
1 Dschem's Pocal, der bei
der Gründung von Persepolis aufgefunden sein sollende kostbare
Rubinpocal, kraft dessen sein Besitzer Dschem, dieser Salomon der
altpersischen Fabelzeit, die verborgensten Geheimnisse leicht und
schnell entdeckte. - Hier ist darunter der Weinpocal verstanden.
2 Anspielung auf Salomon's Siegelring, der ihm die Herrschaft über alle
guten und bösen Geister, Peris nämlich und Diwe, verlieh. Einer der
letzteren (Ahriman) setzte sich durch List in kurzen Besitz des Ringes
und bestieg in Salomon's Gestalt den Thron, bis die Weisen und Räthe des
Volkes diesen wieder dadurch dazu verhalfen, dass sie dem Diwe den
Pentateuch vorlasen; worauf dieser, auf Ring und Reich verzichtend,
entfloh und sich in's Meer stürzte. - Diese Stelle hat Bezug auf Schah
Manssur, den die turkomanischen Stämme aus Schiras vertrieben hatten,
das er aber mit Hilfe eines zahlreichen Heeres bald wieder
zurückeroberte.
3 D.h.: Jener bedaurungswürdigen Schönen, die den Werth eines Herzens
nicht erkennen.
4 D.h.: Der Berg ist da, dessen Jeder sich bei'm Weine freut, für
welchen er sein letztes Geld hingibt. - Die sechs Drachmen sind eine
Anspielung auf die sechs Blätter, die den Becher oder Kelch der Narzisse
bilden.
5 Die gelben Staubfäden im Innern der Rose sind nämlich das Gold, das
sie für den rothen Wein ihrer Blätter dahingibt.
6 Akli küll, der Allverstand, d.i. die allumfassende oder erste
Intelligenz, welcher Nefsi küll, die allumfassende Seele, als ein
Ausfluss der Gottheit, untergeordnet ist.
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