Aus: Buchstabe Dal
54.
Wer deinem Angesicht die Farbe
Der Rose gab und des Nesrin,1
Der kann auch mir, dem armen Manne,
Geduld verleih'n und festen Sinn;
Und wer das Haar die Art und Weise
Der Übergriffe hat gelehrt,2
Der kann auch mir Betrübtem geben
Das, was ich nur mit Recht begehrt.
Ich schnitt die Hoffnung von Ferhaden
An eben jenem Tage ab,
An dem des tollen Herzens Zügel
Dem Mund Schirin's er übergab.3
Nicht schwand der Schatz mir des Genügens,
Wenn auch des Goldes Schatz mir schwand:
Wer diesen den Monarchen schenkte,
Gab jenen in der Bettler Hand.
Die Welt, nur äusserlich betrachtet,
Ist eine schöne Braut: allein
Als Mitgift setzt das eig'ne Leben,
Wer sich mit ihr verbindet, ein.
Es freut fortan des Flusses Lippe
Und der Zipresse Saum mich nur,4
Besonders jetzt, wo Morgenlüfte
Den März verkünden auf der Flur.
Mit Blut füllt sich das Herz Hafisens
In des Geschickes Trauerhand:
Weh', rufe ich, o Glaubensstütze!
Nun deine Wange mir entschwand.5
1 Nesrin, die weisse
Hagerose, rosa canina, auch die Narzisse.
2 Siehe die 1. Anmerkung zum 23. Ghasel aus dem Buchstaben Dal.
[1 Das hier durch Übergriffe übersetzte Wort Tethawwül hat, nebst
dieser Bedeutung, noch jene von Verlängerung, durch welchen
zweiten Sinn hier auf das lange Haar des geliebten Gegenstandes
angespielt wird. Der Dichter meint, die Veilchen tragen nur
deshalb die blaue Trauerfarbe - bekanntlich ist blau bei den
Persern, wie schwarz bei den Arabern die Farbe der Trauer - weil du,
an ihren Beeten vorüber wandelnd, sie mit der Fülle deines langen Haares
überdecktest und somit, indem du sie gleichsam tyrannisch
unterdrücktest, trauern machst.]
3 D.h.: Ich verzweifelte an jenem Tage an Ferhad, an dem er sich in
Schirin verliebte. Ferhad der Künstler und Schirin, die Gemahlin des
Perserkönigs Chosrew oder Chosru Perwis, das bekannte häufig von
orientalischen Dichtern besungene Liebespaar.
4 D.h.: Ich will fortan nur mit Flusses-Ufern und Zipressenstämmen zu
schaffen haben, d.i. mich nur mit der Natur beschäftigen.
5 Kawameddin, Glaubensstütze ist der Beiname des Wesir's Hadschi
Hassan's, des Gönners Hafisens, der hier seine Trennung beklagt.
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