Aus: Buchstabe Dal
56.
Die Seele ohne Freund der Seele
Hat Lust nicht an der Welt:
Wem dieser1 fehlt, von dem ist's sicher,
Dass ihm auch jene2 fehlt.
Bei Niemand ward von jenem Holden
Ein Zeichen ich gewahr;
Bin ich so blöde, oder wäre
Er aller Zeichen bar?3
Auf der Station zufried'nen Lebens
Thut nimmer man Verzicht:
Halt' an, o Karawanenführer!
Der Weg4 hat Grenzen nicht;
Wie hundert Feuermeere glühet
Hier jeder Tropfen Thau's:
O Jammer! Dies verworr'ne Räthsel
Bringt kein Verstand heraus.
Nicht viele Freude schafft das Leben,
Wenn's uns am Freund gebricht:
Gebricht's am Freund uns, schafft das Leben
Uns viele Freude nicht.
Des Zechens Art und Weise lerne,
O Herz, vom Vogte du:
Berauscht ist er; allein ihm muthet
Kein Sterblicher es zu.
Enthülle keinem Nebenbuhler
Dein Herz; - selbst Kerzen nicht:
Weil's jenen Schelmen, den geköpften,
Am Zungenband gebricht.5
Der, den als Meister du erkennest,
- Wenn du es recht besieh'st -
Besitzt zwar, was man Kunst mag nennen,
Doch keinen Vers, der fliesst.6
Die Harfe mit gekrümmtem Rücken
Lädt zum Genuss dich ein:
Der Rath, den Greise dir ertheilen,
Wird dir nicht schädlich sein.
Dass einst das Schicksal durch die Winde
Den Schatz Karun's geholt,
Das, Freunde, sagt der Rosenknospe:
Sie birgt dann nicht ihr Gold.7
Kein Mensch hat einen Knecht hienieden,
Der mit Hafis sich misst:
Kein Mensch hienieden einen König,
Der dir vergleichbar ist.
1 Der Freund der Seele.
2 Die Seele.
3 D.h.: Ich sehe an Niemand Etwas, das mich an die hehre Schönheit des
Geliebten erinnerte; entweder bin ich zu blöde es aufzufinden, oder er
ist ein höheres Wesen, das durch die Sinne nicht wahrzunehmen ist.
4 Der Weg der Liebe.
5 D.h.: Weil es den Kerzen, diesen mit der Lichtscheere geköpften
Schelmen am Zungenbande gebricht, das ihre Geschwätzigkeit zurückhalten
könnte; weil die Flammenzunge der Kerze nie ruhend, ein Bild
unbescheidener Geschwätzigkeit ist, und überdies ihr Licht alles
Verborgene, Geheime erhellt.
6 Dies ist ein Ausfall auf den berühmten Dichter Kiatibi aus Nischabur,
der Hafis vorgeworfen hatte, dass er zu Anfang seines Diwan's Verse aus
einem Gedichte des Chalifen Jesid Ben Moawia entlehnt hatte. Siehe die
1. Anmerkung zum 1. Ghasel aus dem Buchstaben Elif.
[1
Diese Stelle ist einem Gedichte des Jesid Ben Moawia, zweiten Chalifen
der Ommajaden, entnommen. Dieser grausame und gotteslästerliche Fürst
wird von den Persern auch schon deshalb verwünscht und verflucht, weil
er Ursache am Tode Hussein's, des Sohnes ihres geliebten Chalifen Ali'
gewesen ist. Der Dichter Ehli aus Schiras warf daher Hafisen diese
Entlehnung einer Stelle aus einem Gedichte jenes Fürsten in folgenden
Zeilen vor:
Hafisen sah ich einst des Nachts im Traume
Und sprach zu ihm: "Du grundgelehrter Mann,
Was knüpfest Du, so reich begabt mit Wissen,
Den Vers Jesid's an deinen eig'nen an?"
Er sprach: "Du scheinst mir nicht den Spruch zu kennen:
"Man nimmt das Gut des Ketzers, wo man kann."
Der Dichter Katibi aus Nischabur sang bei diesem Anlasse:
"Mich setzt Hafis so mächtig in Erstaunen,
Das drüber mir das Denken fast vergeht:
Schien ihm der Vers Jesid's denn gar so weise,
Dass er am Anfang seines Diwan's steht?
Denn, ist das Gut dem Ketzer abzunehmen
Dem Musulman gesetzlich auch erlaubt,
Macht es doch stets dem Löwen grosse Schande,
Wenn einen Bissen er dem Hunde raubt."]
7 Die im Inneren der Rosenknospe befindlichen gelben Fäden nennt der
Dichter ihr Gold.
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