Mohammed Schemsed-din Hafis

(Übersetzung: Vincenz Ritter von Rosenzweig-Schwannau)


Aus: Buchstabe Dal

102.

Wenn Kranke, die da Wünsche nähren
Und denen es an Kraft gebricht,

Von dir mit Hohn behandelt werden,
Erfüllst du nicht des Mitleid's Pflicht.

Von dir erfuhr ich keine Unbild;
Missfällt dir selbst doch immerdar

Was nicht als Glaubenspflicht erkannte
Des Liebespfades greise Schaar.

Ganz gleichen sich, wenn Reinheit fehlte,
Die Kába und das Götzenhaus:

Wohnt Keuschheit nicht in einem Hause,
So zieht daraus die Wohlfahrt aus.

So lang der Zaub'rer deines Auges
Nicht Hilfe leiht dem Zauberwort,

So lang auch glimmt der Liebe Fackel
Nur immer matt und lichtlos fort.

Das Aug' erblinde, dessen Wasser
Das Liebesfeuer nicht verzehrt,

Und finster sei das Herz für immer,
Das nicht das Licht der Liebe nährt!

Ich wurde erst durch deine Schönheit
Mit meiner Lage ganz bekannt:

Mag ich zu keiner Zeit entbehren
Des Glückes hilfereiche Hand!

Erwarte nur vom Königsvogel1
Und seinem Schatten Glück für dich:

Bei Krähen und bei Raben findet
Des Glückes Fittich nimmer sich.

O schmäle nicht, wenn nur in Schenken
Nach hohem Sinne ich gestrebt,

Da - nach dem Worte meines Alten -
Kein hoher Sinn in Klöstern lebt.

Hafis, betreibe stets das Wissen
Und das was feine Sitte lehrt:

 Nicht ist, wem feine Sitte mangelt,
Des Umgang's mit dem König werth.
 

1 D.i.: Vom Huma. Siehe die 1. Anmerkung zum 31. Ghasel aus dem Buchstaben Te.

[1 Huma, der fabelhafte Königsgeier, dessen Schatten über dem Haupte eines Menschen ihn zum glücklichen, Humajun, d.i. von Huma Beschatteten macht, und dessen Anblick die jedesmalige Gewährung der Wünsche zur Folge hat. Durch den Schutz, welchen dieser Schatten gewährt - daher dem Orientalen die Worte Schutz und Schatten gleichbedeutend sind - war er schon bei den alten Ägyptiern als Sinnbild königlicher Milde verehrt, weil er seine Jungen mit zärtlicher Liebe unter seine Schwingen nimmt, und da er nach der durch die Fabel überlieferten Naturgeschichte des Morgenlandes nie ein noch lebendes Thier, sondern nur die Gebeine der von Anderen getödteten zur Nahrung nimmt, so gilt der Huma dem Orientalen für den edelsten der Raubvögel.]

 

zurück