Aus: Buchstabe Dal
107.
Über meine Augenspiele
Wundern Schwachgesicht'ge sich,
Ganz bin ich, wie ich geschienen:
Doch sie wähnen anders mich.
Weise Männer sind die Punkte
In des Lebens Zirkelkreis:
Doch es schwindelt sie darinnen,
Wie gar gut die Liebe weiss.
O des Trug's, mit Liebe prahlend
Zu beschuldigen den Freund!
Weil, wer solche Liebe spielet,
Nur der Trennung werth erscheint!
An die Eigner süsser Lippen
Knüpfte Gott der Herr mein Loos;
Dieses Volk ist der Gebieter,
Und wir sind die Diener bloss.
Wer's von deinem schwarzen Auge
Hat gelernt, nur der allein
Kann für eingezogen gelten
Und zugleich auch trunken sein.
Nicht nur meine Augen blicken
Auf Sein holdes Wangenpaar,
Dreh'n doch um denselben Spiegel
Mond und Sonne sich sogar.1
Wäre erst den Schenkenjungen
Meine Sinnesart bekannt,
Nähmen sie die Ssofi-Kutte
Nicht mehr an als Unterpfand.
Arm bin ich und Wein und Sängern
Leidenschaftlich zugethan;
Wehe, nimmt die woll'ne Kutte2
Man als Unterpfand nicht an!
Trägt der Wind einst deine Düfte
In der Geister Wonnehain,
Müssen ihres Lebens Perle
Seele und Verstand dir weih'n.
Blinden Fledermäusen ziemet
Der Genuss der Sonne nicht:
Denn es blendet dieser Spiegel
Selbst das schärfste Augenlicht.
Fasst Hafisens wüstes Treiben
Auch kein Frömmler; immerhin!
Muss der Diw doch vor dem Volke,
Das den Koran betet, flieh'n.
1 Diese Stelle spielt auf
die in Persien herumwandernden indischen Taschenspieler an, die unter
anderen den ungebildeten und unwissenden Dorfbewohnern einen
Stahlspiegel vorzeigen, worin diese mit Erstaunen sich selbst erblicken
und dem Taschenspieler dafür eine Kleinigkeit schenken. Wie also die
Dorfleute sich um jenen Spiegel drehen, d.i. sich zu ihm drängen, eben
so dreht sich Mond und Sonne um den Spiegel der Wangen des Geliebten,
d.i. ist begierig nach ihm.
2 Das Ordenskleid der Ssofis ist eine Kutte aus Wolle, Ssof, von der sie
ihren Namen ableiten.
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