Aus: Buchstabe Dal
114.
Das Schicksal gibt kein Zeichen mir
Von meines Freundes Munde:1
Von dem verhüllten Räthsel2 gibt
Das Glück mir keine Kunde.
Mich tödtet Sehnsucht, denn dies Thor
Ist nimmer zu erreichen,
Und wär's erreichbar auch, so gibt
Der Pförtner mir kein Zeichen.3
Für einen einz'gen Kuss von Ihm
Gäb' willig ich mein Leben:
Doch nehmen will Er dieses nicht,
Und jenen auch nicht geben.
Der Ost berührt Sein Haar; o sieh
Des niedrigen Himmels Schalten:
Das was dem Winde er gewährt,
Muss mir er vorenthalten!
Wenn auch den Rand nach Zirkelart
Umkreisen meine Schritte,
Lässt mich das Loos, dem Punkte gleich,
Doch nimmer in die Mitte.4
Durch die Geduld gelänge ich
Zum Zucker wohl am Ende,5
Wenn nur der Zeiten Tücke sich
Zu läng'rer Frist verstände.
Ich sprach: »Den schönen Freund zu schau'n
Will ich nun schlafen gehen.«6
Allein Hafisens Ach und Weh
Lässt Ruhe nicht bestehen.
1 Weil er nämlich zu klein ist um gesehen
zu werden.
2 Dem kleinen Munde.
3 Wörtlich: Kein Weg führt hinter diesen Vorhang; wobei zu
bemerken ist, dass das Wort rah, Weg, auch Modulation und das Wort perde
Vorhang auch Tonweise bedeutet, daher der Sinn auch sein
kann: Es liegt keine Modulation, kein Wechsel in dieser Tonweise, d.i.
der Eintritt zum Freunde bleibt mir immer verschlossen, und der
Pförtner, der Mund, gibt mir kein Zeichen dazu.
4 Da Kenar, Rand, auch Umarmung, und Mijan, Mitte,
auch Lende heisst, so geben diese Verse noch einen zweiten Sinn,
nämlich: Wenn ich auch wie ein (sich drehender) Zirkel um den Geliebten
herumkreise, um eine Umarmung zu erhaschen, so lässt er mich doch nicht
an seine Lende, von der ich so ferne bleibe, wie der Punct vom Rande
oder Kreise, den ein Zirkel zieht.
5 Da Geduld, Ssabr auch der Name eines indischen Baumes mit
bitterem Holze ist, so heisst dieser Satz auch noch: Durch Bitterkeit
gelänge ich zur Süssigkeit.
6 Um dann vielleicht von ihm zu träumen.
|