Aus: Buchstabe Dal
133.
Lang schon hat der Herzbesitzer
Keine Nachricht mehr gesendet,
Nicht ein Wörtchen mehr geschrieben,
Keinen Gruss mehr hergesendet;
Und ich schrieb wohl hundert Briefe,
Während doch an mich so wenig
Boten als Berichte sandte
Jener holde Reiterkönig.
Mir, der ich dem Wilde ähnlich
Des Verstand's verlustig gehe,
Sandt' Er Niemand, der stolzierte
Gleich dem Repphuhn oder Rehe.
Wusst' Er auch, mein Herzensvogel
Würde meiner Hand entweichen,
Sandt' Er doch kein Netz, geflochten
Aus der Schrift, der kettengleichen.1
Wehe! Jener trunk'ne Schenke,
Mit dem Mund, der Zucker spendet,
Wusste mich berauscht und dennoch
Hat er mir kein Glas gesendet.
Sprach ich auch von heil'gen Stätten
Und von Wundern stolze Worte,
Sandte Er doch niemals Kunde
Mir von irgend einem Orte.2
Sei, Hafis, ja stets bescheiden:
Denn dir ziemt es nicht zu rechten,
Wenn der König keine Kunde
Sandte einem von den Knechten.
1 Die Schriftzüge meines Freundes hätten
nämlich ein kettenstarkes Netz gebildet, in welches er den meiner Hand
entflohenen Herzensvogel hätte locken können, d.i. seine Schriftzüge
würden mich beruhigt, getröstet haben.
2 Die Morgenländer pflegen, wenn sie nicht selbst die wunderthätigen
Wallfahrtsorte und andere heilige Stätten besuchen können, einen oder
den anderen Bewohner derselben mit Gebeten, die sie in ihrem Namen
verrichten sollen, zu beauftragen, und wenn diese ihnen berichten, dass
sie sich ihres Auftrages entledigten, sie mit Dankbriefen zu erfreuen
und mit Geschenken zu belohnen. - Hafis sagt nun, dass wenn er auch
stolz darauf war, seinem Freunde wissen zu machen, dass er an
heiligen Stätten und von Wundern umgeben lebe (worunter er die Liebe und
ihre Wunder versteht) und für ihn an so heiliger Stätte bete, so war er
doch nie so glücklich gewesen, von irgend woher eine Kunde, d.i. einen
Dankbrief von ihm zu erhalten.
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