Aus: Buchstabe Te
9.
Der Frömmler, der nur Äuss'rem fröhnet,
Begreifet meine Lage nicht,
Und nimmer werd' ich ihm verargen,
Was in Bezug auf mich er spricht.
Was auf dem Ordenspfad dem Wand'rer1
Entgegen kömmt, das frommt ihm nur:
O Herz, auf dem geraden Pfade
Verliert man nie des Weges Spur.
Wie wird sich wohl das Spiel gestalten?2
Ich rücke mit dem Bauer an:3
Das Schachbrett, das dem Zecher dienet,
Ist keines König's Tummelbahn.
Was soll dies hohe Dach bedeuten,
So glatt und voll von Bildern doch?
Kein Weiser auf dem Erdenrunde
Erklärte dieses Räthsel noch.
O Herr, welch' eine Seelenruhe
Und weise Kraft ward mir bescheert!
Ich leide an geheimen Wunden,
Und jedes Ach ist mir verwehrt.
Es scheint, als ob mein Divanshälter4
Nicht wüsste, was man rechnen nennt:
Die Formel: »Auf die Rechnung Gottes«
Fehlt ja auf diesem Document.5
Ein Jeder, der da will, erscheine
Und spreche, wie für gut er's fand,
Denn Wächtertrotz und Pförtnerhochmuth
Sind ganz von diesem Hof6 verbannt.
Es trägt mein Wuchs, der ungestalte,
Der formenlose, alle Schuld:
Zu kurz sind sonst für keinen Menschen
Die Ehrenkleider deiner Huld.7
Den Weg hin nach der Schenke Pforte
Geh'n Männer Einer Farbe8 nur,
Denn, wer sich selbst verkauft9, den führet
Zu Weinverkäufern keine Spur.
Ich diene einem greisen Wirthe,
Dem es an Gnade nie gebricht;
Allein des Scheïch's und Frömmlers Gnade,
Bald ist sie und bald ist sie nicht.
Verschmäht' Hafis den Sitz der Ehren,
Hat er's aus Hochsinn nur gethan:
Ficht ja den zechenden Verliebten
Kein Geld und keine Würde an.
1 D.i.: Dem Mystiker
2 Wörtlich: Welches Spiel wird die Wange zeigen, d.i. wird zum Vorschein
kommen? Das Wort ruch, das Wange heisst, ist auch der persische Name des
Thurmes im Schachbrette, von welchem der Ausdruck: rochiren, hergeleitet
ist.
3 D.h.: Ich will (auf dem Schachbrette der Liebe) nur langsam zu Werke
gehen, um desto sicherer zum Ziele zu gelangen.
4 D.i. der Wesir, worunter hier der Geliebte gemeint ist, oder, wie Sudi
dafür hält, der dem Dichter weniger geneigte Grosswesir.
5 Die Formel: Hisbeten lillah, d.i.: Auf Rechnung Gottes oder
Gott zu Liebe, die ungefähr den Sinn von: Gott zu Liebe hat, pflegt auf
den oberen Rand der Befehle gesetzt zu werden, die der Diwan erlässt. Da
nun auf dem Documente meines Wesir's diese Formel fehlt, so ist dasselbe
ungültig, d.i. er verfährt nicht, wie er sollte, mit mir.
6 Unter diesem Hofe scheint der Pallast des zweiten Wesir's Kawameddin
Hassan verstanden zu werden, der weit zugänglicher war als der
Grosswesir.
7 Anspielung auf das Ehrenkleid, welches Kawameddin Hassan einst Hafis
übersandte und das zu klein für ihn gewesen war.
8 D.i.: Truglose, reine, rechtliche Männer, deren Inneres dem Äusseren
entspricht.
9 D.i. der Gleissner.
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