Aus: Buchstabe Schin
11.
Zu des Kaisers1 Zeit, der Nachsicht
Übt an Sündern allzumal.
Trinkt der Mufti aus dem Becher
Und Hafis aus dem Pocal.
Von der Zelle Winkel setzte
Sich der Ssofi zu dem Fass,
Seit er sah, dass auf der Achsel
Selbst dem Vogt die Kanne sass.
Um des Scheïches und des Richters
Judentrunk2 hab' ich befragt
Den bejahrten Weinverkäufer.
Als es eben kaum getagt.
Und er sprach: »Ich darf nicht sprechen,
Magst du eingeweiht auch sein;
Halte nur die Zung' im Zaume,
Birg' dich und dann trinke Wein!«
Schenke! Schon erscheint der Frühling
Und kein Weingeld blieb mir mehr:
Denke wie mein Herzblut brause,
Denn dies grämt mich gar zu sehr,
Liebe, gänzliche Verarmung,
Jugendzeit und Lenz sind da;
Halte mich damit entschuldigt
Und verzeih' was ich versah!
Wirst du wohl noch länger züngeln3,
Ähnlich einem Kerzenlicht?
Kam ja doch der Wünsche Falter:4
Drum, Geliebter, plaudre nicht!
Kaiser du des Bild's und Sinnes,5
Dessen Gleichen nie zuvor
Hat geschaut ein Menschenauge,
Noch gehört ein Menschenohr!
Lebe, bis dein Glück, das junge,
Einst die blaue Kutt' empfängt
Aus der Hand des alten Himmels,
Der mit Lappen sich behängt.6
1 Unter dem Kaiser ist Schah Schedscha
gemeint. Dies Ghasel sang Hafis aus dem Stegreife, um Schah Schedscha zu
versöhnen, der ihn beim Weintrinken und bei unerlaubter Liebe betreten
hatte.
2 Unter Judentrunk ist der Wein zu verstehen. Der Commentator Sudi
bemerkt, er heisse so, weil die Juden nie so viel davon trinken, dass
sie berauscht werden.
3 D.h. Die Zunge in Bewegung setzen, wie die Kerze die Zunge der Flamme.
4 D.h. Hast du ja doch deinen Wunsch erreicht. Anspielung auf das
bekannte Mährchen vom Kerzenlichte und Falter.
5 D.h. Du Kaiser in thatsächlicher und moralischer Bedeutung.
6 D.h. Lebe bis dein junges, d.i. dein glückliches Geschick, nämlich bis
du, Glücklicher, einst vom Himmel sein blaues Gewand empfängst; d.h. wie
Sudi sagt, bis der Himmel zu Grunde geht und nur sein blaues Gewand
übrig bleibt, in das du dich hüllen mögest. Der Himmel wird ein mit
Lappen behängter genannt, weil dem Dichter die Sterne desselben als eben
so viele seinem blauen Gewande aufgenähte Lappen erscheinen.
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