Mohammed Schemsed-din Hafis

(Übersetzung: Vincenz Ritter von Rosenzweig-Schwannau)


Aus: Buchstabe Te

19.

Nicht umsonst ist jener Schlummer
Deines schlauen Augenpaar's;

Nicht umsonst ist jener Schimmer
Deines wirren Lockenhaar's.

Noch floss Milch von deiner Lippe,1
Und schon sagte ich wie heut:

»Nicht umsonst ist dieser Zucker
Um dein Salzgefäss2 gestreut.«

Eine Quelle ew'gen Lebens
Ist dein Mund; doch ist bekannt,

Deines Kinnes Brunnen liege
Nicht umsonst an ihrem Rand.3

Freue dich des längsten Lebens!
Weiss ich doch für meinen Theil,

Nicht umsonst sei an den Bogen
Angelegt dein Wimpernpfeil.

 Bist in Gram und Leid verfallen
Und in herben Trennungsschmerz:

Nicht umsonst ist deine Klage
Und dein Wehgeschrei, o Herz!

Gestern weht' am Rosenhaine
Seines Dorfes Luft vorbei:

Nicht umsonst reisst du, o Rose,
Dir den Kragen nun entzwei.4

Birgt das Herz auch vor den Leuten,
Was die Lieb' es leiden liess,

Nicht umsonst doch ist dies Weinen
Deines Auges, o Hafis!
 

1 D.h.: Du warst noch ein Säugling.

2 D.h.: Um deinen Mund. - Der Mund, aus dem das Salz des Witzes (sales et lepores) herausströmt, wird von orientalischen Dichtern eben so häufig einem Salz- als einem Zuckergefässe verglichen.

3 Damit nämlich die Verliebten, so nahe an der Lebensquelle deines Mundes, in den Brunnen (das Grübchen) deines Kinnes stürzen und darin den Tod finden.

4 Nämlich aus Sehnsucht nach dem Freunde. - Das Entblättertwerden der Rose nennen orientalische Dichter das Zerreissen ihres Kragens, ihres Hemdes oder Gewandes.

 

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