Mohammed Schemsed-din Hafis

(Übersetzung: Vincenz Ritter von Rosenzweig-Schwannau)


Aus: Buchstabe Mim

20.

Es hält dem Seelenangesichte
Mein Körperstaub den Schleier vor;

O Wonne, heb' ich einst den Schleier
Von diesem Angesicht empor!

Und da für mich, den holden Sänger,
Kein solcher Käfig passen kann,

Eil' ich - ein Vöglein jener Wiese -
In's Rosenfeld hin zu Riswan.1

Warum ich kam, wo ich gewesen,
Nicht klar erfasste es mein Sinn:

O Schmerz, dass ich in eig'nen Dingen
So ganz und gar unwissend bin!

Wie sollte pilgernd ich umkreisen
Die weite Flur der heil'gen Welt,

Da meinen Leib im Erdenhäuschen
An Brettern man befestigt hält?2

 Ich, der den Schauplatz nur der Huris
Für meine Heimath anerkannt,

Soll nun den Gau der wüsten Zecher
Betrachten als mein Vaterland?

Wenn aus dem Blute meines Herzens
Des Moschus süsse Düfte weh'n,

So staune nicht: verwandt durch Leiden
Bin ich dem Rehe3 von Choten.

Sieh auf das gold'ne Stickwerk nimmer
Das reich mir ziert des Hemdes Rand,

Denn innerhalb des Hemdes nähr' ich,
Der Kerze gleich, geheimen Brand.4

O komm und nimm Hafisen's Leben,
Wie sich's vor ihm entfaltet, hin,

Denn Niemand hört, bist du am Leben,
Das kühne Wort von mir: Ich bin.
 

1 Riswan, der Hüter des Paradieses.

2 Wie die Kaufleute Stoffe und Zeuge an Bretter befestigen, damit sie nicht zerknittert werden.

3 Im Texte: Nafe, d.i. Nabel; pars pro toto. Der Nabel des chotenschen Rehes gibt den besten Moschus, der nichts als geronnenes im Nabel jenes Thieres enthaltenes Blut ist, das nur mit grossen Schmerzen abgesondert wird.

4 Unter dem goldenen Stickwerk sind die von der Kerze abrinnenden Tropfen, und unter dem Hemde die Wachsbekleidung des Dochtes zu verstehen.

 

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