Aus: Buchstabe Mim
37.
Meine eig'ne Hand, die kurze,1
Lastet schwer auf mir,
D'rum erröth' ich vor den schlanken
Hochgestalten hier.
Fasst kein Freund mit Kettenhaaren
Meine Hand, o dann
Heb' das Haupt ich in die Höhe
Wie ein toller Mann.
Frag' mein Auge, willst du wissen
Was der Himmel macht,
Denn des Nachts zähl' ich die Sterne
Bis der Tag erwacht.
Dankbar küsse ich des Bechers
Vollgefüllten Rand,
Denn mit des Geschickes Räthsel
Macht er mich bekannt.
Meinem eig'nen Arme bin ich
Minder dankbar nicht,
Weil zur Peinigung der Menschen
Mir's an Kraft gebricht.2
Wenn ich für die Weinverkäufer
Fromme Wünsche sprach,
Komm' ich nur - was ist es weiter? -
Schuld'gem Danke nach.
Mich vom Boden aufzuheben
Bist du nicht gewillt,
Wenn mir auch statt jeder Thräne
Eine Perl' entquillt.
Trink' ich Blut auf diesem Felde,
O so schilt mich nicht!
Denn tatar'schen Moschusrehen
Geb' ich Unterricht.3
Ein berauschtes Haupt besitz' ich,
Gleich Hafisen, zwar,
Doch auf jenes Hohen Gnade
Hoff' ich immerdar.
1 D.h. Meine Armuth, mein
Unvermögen.
2 Eine dem Sinne und fast auch den Worten nach ganz gleiche Stelle aus
Sa'adi's Rosengarten heisst:
Wie zolle ich des schuld'gen Dankes Pflicht,
Dass mir's an Kraft zur Menschenqual gebricht?
3 Siehe die 2. Anmerkung zum 1. Ghasel aus dem Buchstaben Elif.
[2 D.h. Jedermann lässt ob der
krausen Ringe deiner Locken blutige Thränen auf sein Herz träufeln in
der so lange unerfüllten Hoffnung, dass der Ostwind endlich jene Locken
löse und den darin enthaltenen Moschusduft verbreite. - Durch das Blut
(der Thränen) spielt Hafis auf den im Nabel des Moschushirsches
befindlichen Moschuses an, der den Orientalen nichts anderes als
geronnenes Blut ist, das von jenem in Tibet, Chata und Choten heimischen
Thiere nur mit vielen Schmerzen abzusondern ist. - Wie also der Moschus
nur durch schmerzhaften Blutverlust gewonnen wird, eben so schmerzhaft
müssen auch die Augen bluten, die so lang vergeblich auf den Moschusduft
des Haares des Geliebten hoffen.]
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