Aus: Buchstabe Mim
62.
Sei gegrüsset, Vogel du des Glückes,
Du, der stets als Freudenbot' erscheint,
Sei willkommen! Welche Kunde bringst du,
Wohin willst du? Führt der Weg zum Freund?
Herr! Es leite diese Karawane
Deine Huld, die ewige, an's Ziel,
Weil durch sie das Liebchen glücklich wurde,
Und der Gegner in die Schlinge fiel.
Zwischen mir und zwischen dem Geliebten
Endet nie der zänkische Verkehr:
Denn was keinen Anfang hat genommen,
Das gelangt auch nie zum Ende mehr.
Weil des Holden Sonnargleiche1 Locke
Es gebieterisch von mir begehrt,
Nun so ziehe ruhig fort, o Meister:
Eine Kutte bleibt mir streng verwehrt.2
Meinen Geist, den Vogel dessen Lieder
Man von Sidra's3 hohem Wipfel hört,
Hat das Körnchen deines Maales endlich
In das Netz gelockt und schlau bethört.
Allzu stolz geberdet sich die Rose:
Lass denn gnädig du die Wange schau'n!
Unschön ist die Haltung der Zipresse:
Schreite du denn zierlich durch die Au'n!
Meinem Auge, dem nur Blut entträufet,
Ist der Trost des Schlummers nicht gewährt:
Wen ein Schmerz, ein tödtender, befallen
Hat des Schlafes Wohlthat stets entbehrt.
Dass du meiner niemals dich erbarmest
Hab' ich Herzberaubter dir gesagt;
Auch behaupt' ich's, und die Zeit wird kommen,
Wo dich reut was du zu thun gewagt.
Wenn Hafis zu deinen holden Brauen
Hin sich neigt, so thut er wohl daran,
Denn es siedeln die beredten Männer
In dem Winkel sich des Altar's an.4
1 Siehe die 2. Anmerkung zum 50. Ghasel
aus dem Buchstaben Te.
[An dem Christengürtel (Sonnar), welcher der heiligen, zwölfknötigen Schneu (Kesti),
dem Weihsymbol der Parsen wie der Brahmanen, nachgebildet scheint,
betete nämlich Scheich Ssan'an seinen muhammedanischen Rosenkranz (Tesbih),
der, aus 99 Korallen bestehend, die 99 schönen Eigenschaften Gottes
versinnlichen soll. Der Gürtel Sonnar wurde im Jahre 235 der Hidschra
(849) vom abbassidischen Chalifen Mutewekkil eingeführt, als
Unterscheidungszeichen der Christen (und Juden) von den Muhammedanern.]
2 D.h. Weil die Locke des Geliebten, die einem Christengürtel (Sonnar)
gleicht, dadurch von mir gleichsam zu begehren scheint, dass ich keine
(mohammedanische) Mönchkutte mehr anziehe, so will ich es auch nimmer
thun.
3 Sidra, der Name eines paradiesischen Baumes.
4 Der Dichter vergleicht die Brauen des Geliebten mit dem Winkel oder
der Nische eines Altars, und thut wie die beredten Männer, zu denen er
gehört, d.i. wie die Prediger, die ihre Predigten in der Nische des
Altares halten.
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