Aus: Buchstabe Mim
64.
Ziele mit dem Wimpernpfeile
Nimmer nach dem Herzen mir,
Denn vor deinem kranken Auge
Sehn' ich mich zu sterben hier.
Deiner Schönheit Summe reichet
Zur Vollendung schon hinan:
Gib denn mir davon den Zehent,
Mir, dem gar so armen Mann.1
Jener Vogel, der sein Liedchen
Morgens und allabendlich
Von des Himmelsthrones Dache
Laut erschallen lässt, bin ich.
Fülle mir mit Wein den Becher,
Denn, da Liebe mich beglückt,
Bleibt mein Glück ein ewig junges,
Wenn mich auch das Alter drückt.
Meines Busens Räume füllten
Also mit dem Freunde sich,
Dass das Denken an mich selber
Mir aus dem Gemüthe wich.
Nur der Wein und nur der Sänger
Sei'n in Rechnung mir gebracht,
Wenn das Rohr des Schreiberengels
Sich zum Schreiben fertig macht;2
Und in jenem Streit, wo Keiner
Freundlich um den Andern frägt,3
Werde ich zu grossem Danke
Für des Wirthes Huld bewegt.
Wirst du wohl noch lang, o Frömmler
Mich bethören, wie ein Kind,
Dessen Köder Gartenäpfel
Oder Milch und Honig sind?
Mit den Weinverkäufern habe
Ich geschlossen den Vertrag
Mich nur an das Glas zu halten,
Nahet einst des Grames Tag.
O des frohen Augenblickes
Wo der Stolz des Rausches mir
Unabhängigkeit gewähret
Von dem König und Wesir!
Denn in meinem Busen bergen
Mannigfache Schätze sich,
Blicket auch der Widersacher
Mit Verachtung nur auf mich.
Abgewandt hat von Hafisen
Sich mein Herz in dem Moment
Wo zum Freund mir ward der Schenke,
Er, von dem mich nichts mehr trennt.
1 Reiche sind nach dem Islam verbunden,
den Armen den Zehent ihres Einkommens zu überlassen.
2 Nach dem Glauben des Islams stehen jedem Menschen ein oder zwei
unsichtbare Engel zur Seite, die seine guten und bösen Handlungen
aufschreiben. - Wenn also der mir zur Seite stehende Schreiberengel -
sagt Hafis - das geringste mich Betreffende aufzeichnet, so müsse er
immer meine Liebe zum Weine und zum Sänger in Rechnung bringen.
3 D.i. Beim jüngsten Gerichte.
|