Mohammed Schemsed-din Hafis

(Übersetzung: Vincenz Ritter von Rosenzweig-Schwannau)


Aus: Buchstabe Je

6.

Kömmst aus jenes Kinnes Brunnen
Du dereinst heraus, o Herz,

Kommst du, wo du hin auch gehest,
Nur heraus mit Reueschmerz.

Nicht mit Einem Tropfen Wassers
Labe dich des Himmels Hand,

Kommst du mit noch durst'ger Lippe
Von des Lebensquelles Rand.

Sei auf deiner Hut, denn horch'st du
Auf der Sinne Schmeichelwort,

Kommst du, wie einst Vater Adam,
Aus Riswan's Gefilden fort.

Sterben will ich in der Sehnsucht
Dich zu schau'n, dem Morgen gleich,

Hoffend, dass hervor du kommest
Wie die Sonne strahlenreich.

 Mit dem Athem des Bestrebens
Hauch' ich, gleich dem Ost, dich an,

Und, wie Rosen aus der Knospe,
Kommst heraus du lächelnd dann.

Auf den Mund trat mir die Seele
In der finster'n Trennungsnacht:

Zeit ist's, dass hervor du kommest,
Gleich dem Mond, in lichter Pracht.

Wohl zweihundert Thränenbäche
Leitete ich an dein Thor,

Denn, als wandelnde Zipresse -
Hofft' ich - kämest du hervor.

Bis wie lang wirst du noch weilen
In des Gram's und Kummers Haus?

Zeit ist's, dass du, von des Herrschers
Glück begünstigt, komm'st heraus.

Sorge nicht, Hafis; dein Joseph
Kehret heim, schön wie der Mond,

 Und du kömmst aus jenem Stübchen
Wo du trauernd hast gewohnt.1
 

1 Eine Anspielung auf den Patriarchen Jakob, der die Zeit der Abwesenheit seines geliebten und dem Morgenländer als das Ideal männlicher Schönheit geltenden Sohnes Joseph im einsamen Stübchen vertrauerte. - Der Dichter ist Jakob und der Geliebte Joseph.

 

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