Mohammed Schemsed-din Hafis

(Übersetzung: Vincenz Ritter von Rosenzweig-Schwannau)


Aus: Buchstabe Je

55.

Die Sitte ungetreu zu sein
Zeigt klar sich jedem Blick,

Und keine Spur von Freundschaft blieb
Bei Menschen mehr zurück.

Es hält der hochverdiente Mann
- Denn Armuth dränget ihn -

Jetzt jedem niederträcht'gen Wicht
Die Hände bettelnd hin;

Und Keiner, den ein Vorzug schmückt,
Sieht in der jetz'gen Zeit

Sich einen einz'gen Augenblick
Von Kümmerniss befreit;

Allein der Thor lebt immerdar
Im Überfluss und Glück,

Und seine Waare ist gesucht
In diesem Augenblick;

Und wenn ein Dichter Lieder singt,
Klar wie ein Bach nur fliesst,

So dass dadurch stets gröss'res Licht
Sich in das Herz ergiesst,

So reicht doch Sparsamkeit und Geiz
Kein Körnchen Lohn's ihm dar,

Gesetzt er wär' ein Dichter auch
Wie Sünaji1 es war.

Es raunte in des Sinnes Ohr
Mir gestern der Verstand:

»Geh' hin und leide mit Geduld
In deinem dürft'gen Stand;

Und mache dir ein Capital
Aus der Genügsamkeit,

Und weil du leider dürftig bist,
So trage denn dein Leid!«

Komm, horche diesem Wort, Hafis,
Mit deiner Seele Ohr:

 »Erst wenn dein Fuss gestrauchelt hat,
Hebt sich dein Haupt empor.«
 

1 Sunaji, der älteste grosse mystische Dichter der Perser unter der Regierung Sultan Mahmud's des Ghasnewiden. Er starb 576 (1180) zu Ghasna.

 

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