Aus: Buchstabe Je
57.
Du, der Alles schon besitzet,
Was man auf der Welt begehrt!
Grämt dich wohl der Menschen Lage
Deren Kraft sich aufgezehrt?
Heisch' vom Diener Herz und Seele,
Nimm sie beide schnell ihm ab,
Weil ja Gott selbst freien Häuptern
Zu gebieten Macht dir gab.
Du besitzest keine Mitte,
Desshalb wundert es mich sehr
Wie du denn die Mitte haltest
Mitten in der Schönen Heer?1
Keine Malerei entweihe
Je dein weisses Angesicht,2
Wo das Schwarz des Moschusflaumes
Ergawane zart durchbricht.
Trinke immer Wein, du Zarter,
Denn du bist ein leichter Geist,
Vollends in dem Augenblicke
Wo dein Haupt sich schwer erweist.
Tadle doch mein Herz nicht immer,
Quäl' es nicht, lass es in Ruh'!
Nein, behandl' es nach Belieben:
Hast ja doch das Recht dazu.
Deines Bogens Unglückspfeile,
Hunderttausend an der Zahl,
Auf mich wunden Mann zu schnellen
Steht in deiner freien Wahl.
Dulde stets mit frohem Muthe
Deiner Wächter Tirannei:
Alles wird dir leicht erscheinen
Liebt ein Freund dich heiss und treu.
Ward dir der Genuss des Freundes
Auch nur kurze Zeit gewährt,
Geh', denn du besitzest Alles
Was man auf der Welt begehrt.
Thu'st du freundliche Erwähnung
Seiner Lippe von Rubin,
Hast du ein gar süsses Mährchen
Mitten in dem Munde d'rin.
Trägst, Hafis, aus diesem Garten
Rosen du im Saum davon,
Nun, was kümmert dich des Gärntners
Wehgeschrei und Klageton?
1 Eine Spielerei mit dem Worte Mejan,
Mitte (des Leibes), die verständlich wird, wenn man weiss: 1. Dass die
feine Taille dem Morgenländer eine so grosse Schönheit dünkt, dass
gleichsam die Abwesenheit derselben zum höchsten Schönheitslobe wird,
wie denn orientalische Dichter auch einen kleinen Mund ein Nichts
nennen; und 2. dass der Ausdruck: die Mitte halten so viel
bedeute als: den Vorsitz haben, den Ehrenplatz einnehmen.
2 Man weiss, dass die morgenländischen Schönen sich das Gesicht mit
allerhand Figuren, als Sterne, Blumen, Mond usw. zu bemalen pflegen. -
Das Wort Bejas, weiss, heisst im Persischen auch noch so viel als
(weisses) Papier.
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