Mohammed Schemsed-din Hafis

(Übersetzung: Vincenz Ritter von Rosenzweig-Schwannau)


Aus: Buchstabe Je

63.

Morgen ist's und Thau fällt nieder
Aus der Wolke des Behmen:

Bringe Morgenwein im Glase,
Das da hält ein volles Men!1

Labe dich am Blut des Bechers,
Denn gerecht ist ja sein Blut;

Habe nur mit Wein zu schaffen,
Weil diess löblich ist und gut.

Lässt der Rausch am frühen Morgen
Nicht dein Haupt von Schmerzen frei,

Schlage denn - das Beste ist es -
Diesem Rausch die Stirn entzwei!2

Schenke, sei zur Hand! Es lauert
Im Versteck der Gram mir auf;

Liedermund, lass jener Weise,
Die du eben spiel'st, den Lauf!

 Gib mir Wein, denn in die Ohren
Raunte mir die Harfe leis:

»Freu' des Lebens dich, und horche
Diesem tiefgekrümmten Greis«!

Um des Zecherstolzes willen
Trink', Hafis, nur immer Wein,

Dass des Sängers Ton dir sage:
»Wahrhaft reich ist Er3 allein.«
 

1 Behmen ist der Genius, der dem mittleren der drei Wintermonate vorsteht. Der Commentator Sudi bemerkt hiezu, dass im December nicht Thau niederfallen könne, und dass Hafis wahrscheinlich die Schneeflocken den Thautropfen vergleichen wollte. - Men ist ein bereits erwähntes Mass.

2 D.h. Vertreibe die Schmerzen, das Unbehagen des Rausches wieder mit Wein.

3 Gott nämlich. - Hafis spielt hier mit den zwei Bedeutungen des Wurzelwortes Ghana, das singen und reich sein heisst. Ghani, der Reiche, ist eines der 99 Eigenschaftswörter Gottes, die der mohammedanische Rosenkranz enthält.

 

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