Aus: Buchstabe Je
65.
Die Geschichte meiner Sehnsucht schrieb ich
Unter Thränen auf:
Komm, denn Gram droht, fern von dir, zu enden
Meinen Lebenslauf.
Mit dem eig'nen Augenpaare sprach ich
Viel von Sehnsuchtspein;
Wo wird jetzt, Ihr Stätten meiner Selma,1
Eure Selma sein?
Wunderbar ist, was sich zugetragen,
Unerhört sogar:
Ich, das Opfer, schweige, und es klaget
Wer mein Mörder war.
Wer vermöcht' es deinen Saum, den reinen,
Einer Schmach zu zeih'n?
Ist der Tropfen auf dem Rosenblatte
Nimmer doch so rein!
Um mit Glanz die Tulpe und die Rose
Zu verseh'n, erkor
Deinen Fussstaub, als auf Staub und Wasser
Schrieb das Schöpfungsrohr.2
Morgenwinde hauchen Ambradüfte:
D'rum, o Schenke, auf!
Bring' die reine dufterfüllte Traube
Mir in schnellem Lauf!
Säume nicht den Augenblick zu nützen,
Denn ein Sprüchwort lehrt:
»Die Gewandtheit ist's, von der ein Wand'rer
Auf dem Wege3 zehrt.«
Ohne dich und deine Güte schwände
Meine Spur. Fürwahr,
Nur in deinem Angesichte seh' ich
Meine Werke klar.
Ist Hafis zu schildern deine Schönheit
Jemals wohl im Stand?
Fasst dich doch, wie Gottes Eigenschaften,
Nimmer der Verstand.
1 D.i. Ihre Augen, denen meine Selma
immer vorschwebt, in denen sie gleichsam wohnt. - Dieses Ghasel ist
theilweise arabisch.
2 D.h. Als Gott mit dem Schöpfungsrohre, d.i. mit der Feder seiner
Allmacht, sein "Werde!" niederschrieb und mittelst desselben den Menschen
aus Staub und Wasser (Lehm) formte, nahm er deinen Fussstaub, um den
Blumen der Flur dadurch Glanz zu verleihen.
3 Auf dem Wege der Liebe nämlich.
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